Nonnweiler, Bettina

Chorarbeit mit jungen Erwachsenen im kirchlichen Umfeld

Grundlagen einer Didaktik

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Waxmann, Münster 2023
erschienen in: üben & musizieren.research 2024

 

Grundlagen für chorisches Singen (nicht nur) mit jungen Erwachsenen

Ergebnisse einer interdisziplinären Forschungsarbeit mit Fokus auf das Singen im kirchlichen Kontext


Rezension zu:
Nonnweiler, Bettina (2023). Chorarbeit mit jungen Erwachsenen im kirchlichen Umfeld. Grundlagen einer Didaktik. Internationale Hochschulschriften, Band 705. Münster: Waxmann. 572 Seiten, broschiert, 39,90 €, ISBN 978-3-8309-4684-7

Rezensent: Helmut Schaumberger
Rezension veröffentlicht am: 09.12.2024

1. Ausgangspunkt und Zielsetzung

Singen und insbesondere chorisches Singen in einem religiösen Kontext blicken auf eine lange Geschichte, die Forschende unterschiedlicher Disziplinen in den Blick genommen haben. Waren es anfangs vor allem (musik)historische Fragestellungen, so sind seit Beginn des 20. Jahrhunderts vermehrt auch musikpädagogische Fragestellungen im Zusammenhang mit dem Singen wissenschaftlich aufgearbeitet worden (Antwerpen, 2014; Bojack-Weber, 2012; Henning, 2014 & 2021; Lehmann-Wermser & Niessen, 2008; Schaumberger, 2020). Die von der Kirchenmusikerin, Musikwissenschaftlerin und Germanistin Bettina Nonnweiler vorgelegte Dissertation „Chorarbeit mit jungen Erwachsenen im kirchlichen Umfeld. Grundlagen einer Didaktik“ ist nicht nur aufgrund des Untertitels diesem Bereich zuzuordnen. Wie im Folgenden ausgeführt, analysiert die Autorin in der 572 Seiten umfassenden Arbeit auch die Erkenntnisse einer Reihe von anderen Disziplinen, um die mit einer zeitgemäßen chorischen Singarbeit junger Erwachsener im kirchlichen Umfeld verbundenen Fragestellungen umfassend beantworten zu können. Wie die Autorin in der Einleitung ausführt, resultiert ein größerer Teil der Arbeit aus der eigenen kirchenmusikalischen Praxis und der dort gemachten Erfahrung, dass tradierte bzw. selbst erlernte Formen und Vorgehensweisen der Chorleitung bei jungen Erwachsenen nicht immer greifen (Nonnweiler, 2023, S. 11). Sie stellt fest, dass für diese spezielle Zielgruppe bislang keine Didaktik vorliegt und dass sich gerade die am stärksten mit derartigen Fragen befassten Disziplinen wie die Musikpädagogik, aber auch die sich in den letzten Jahren immer stärker ausdifferenzierende Kirchenmusikpädagogik (vgl. in diesem Zusammenhang Siering, 2022) bislang nicht mit den Charakteristika und Bedürfnissen dieser Altersgruppe auseinandergesetzt hat. Mit Blick auf die Zielgruppe der jungen Erwachsenen, für die die chorpädagogischen Handbücher für Kinder und Jugendliche einerseits und jene für Erwachsene andererseits nicht mehr oder noch nicht passen, formuliert Nonnweiler eine Reihe von Grundsatzfragen (Nonnweiler, 2023, S. 14), die den Rahmen der Arbeit bilden. Aus Sicht des Verfassers dieser Rezension ist insbesondere die Frage, welche „Eigenaktivitäten, Anteile, Teilhabe und Mitbestimmung […] jungen erwachsenen Sängerinnen und Sänger[n] an und in dem zugetraut und zugestanden werden [soll], was sich im Chor im Umgang mit Musik ereignet“ (ebd.) eine Schlüsselfrage des Textes. Nonnweiler beantwortet diese Frage durch die Vorstellung mehrerer innovativer Ansätze (siehe Kapitel sieben), die in dieser Form bisher weder in der Kirchenmusikpädagogik noch in der allgemeinen Chorpädagogik diskutiert worden sind und das Potential haben, chorisches Singen im 21. Jahrhundert (nicht nur) für junge Erwachsene attraktiv zu halten.

2. Aufbau und methodisches Vorgehen

Das in neun Großkapitel unterteilte Buch verfolgt einen interdisziplinären Ansatz, in dem neben der Musikpädagogik, der Kirchenmusikpädagogik und der Erwachsenenpädagogik auch Nachbardisziplinen wie die Entwicklungspsychologie, die Soziologie und die Theologie in den Blick genommen werden. Nach einer ausführlichen Darlegung der Zielsetzungen und der forschungsleitenden Überlegungen in Kapitel eins[1] präsentiert Nonnweiler in den Kapiteln zwei bis vier das für die Beantwortung der forschungsleitenden Fragen relevante Grundwissen aus den Bereichen Didaktik, Entwicklungspsychologie und Soziologie. In Kapitel fünf bespricht die Autorin unterschiedliche Perspektiven auf das Singen mit jungen Erwachsenen im kirchlichen Umfeld, um danach drei pädagogische Richtziele (musikpädagogische, religionspädagogische und kirchenmusikpädagogische Richtziele) darzulegen. Daran anschließend setzt sich Nonnweiler in einem eigenen Kapitel (Querschnittsthema: ästhetische Erfahrung) mit dem vielfach diskutierten Begriff der ästhetischen Erfahrung auseinander. Waren die ersten sechs Kapitel der Dissertation noch durch eine hermeneutische Herangehensweise geprägt, so enthält das siebte Kapitel drei Abschnitte, in denen die Autorin mit Hilfe von Gedächtnisprotokollen und direkten Zitaten von Chorsänger*innen detailreich Einblick gibt in ihre Chorarbeit. Sie zeigt in einem ersten Beispiel (7.2.4 und 7.2.5), wie tiefgreifende Werkreflexion und Musikvermittlung in der Chorarbeit aussehen könnten, indem sie das gemeinsame Nachdenken über ein zeitgenössisches Chorwerk mithilfe von Zitaten ihrer Chorsänger*innen sowie eigenen Reflexionen illustriert. In einem zweiten Beispiel (Kapitel 7.3.1.6) schildert Nonnweiler, wie ihr Chor in einem kollaborativen Prozess die Interpretation eines Chorwerks erarbeitet, um daran anschließend in einem dritten Beispiel (ab S. 431) unterschiedliche Herangehensweisen an chorische Improvisation zu beschreiben. Da die Autorin in diesen Abschnitten den hermeneutischen Zugriff auf das Forschungsthema verlässt und die durch einen starken Ich-Bezug charakterisierten Praxiseinwürfe nicht als zusätzliche Säule des Erkenntnisgewinns ausweist, muss der Arbeit an dieser Stelle eine forschungsmethodische Schwäche attestiert werden. Als weitere Schwäche sei angemerkt, dass Nonnweiler in Kapitel 7.2.3 (Musikvermittlung) anders als in den restlichen Theoriekapiteln nicht auf die aktuellsten Publikationen (bspw. Petri-Preis & Voit, 2023) in diesem sehr jungen Feld der Musikpädagogik zurückgreift. Im vorletzten Kapitel stellt Nonnweiler eine Reihe geschlossener methodischer Konzeptionen vor, die in der Chorarbeit mit jungen Erwachsenen zur Anwendung gelangen können, um daran anschließend in den Schlussbetrachtungen die wesentlichen Erkenntnisse zusammenzufassen.

3. Theoretische Bezugspunkte für eine zeitgemäße Chorarbeit mit jungen Erwachsenen (nicht nur) im kirchlichen Umfeld

Wie im Titel dieser Rezension angedeutet, kann die von Nonnweiler vorgelegte Arbeit als Grundlagenwerk beschrieben werden, in dem nicht nur die Grundlagen einer zeitgemäßen Didaktik für junge Erwachsenenchöre im kirchlichen Umfeld hergeleitet sind, sondern in dem neben Anregungen für die Chorpraxis mit Chorsingenden aller Altersgruppen auch zahlreiche theoretische Bezugspunkte für eine an die Bedürfnisse und geänderten Rahmenbedingungen im 21. Jahrhundert angepasste Chorarbeit zu finden sind.
Eine erste Fundgrube für diese Bezugspunkte stellt das zweite Kapitel (Didaktik) dar, in dem die Autorin einen Überblick über didaktische Entwicklungen, Strömungen und Schwerpunkte samt den Definitionen der damit befassten Theoretiker gibt. Neben dem Hinweis auf die von Siebert (2012, S. 13) vorgelegte Taxonomie „besondere Didaktiken“ (dazu zählen die „schulpädagogische Didaktik“, die „Didaktik der Erwachsenenbildung“ und die „berufspädagogische Didaktik“ bietet die ebenso umfassende wie kritische Auseinandersetzung mit theoretischen Modellen (u. a. Hamburger Modell, Berliner Modell, kritisch/kommunikative Didaktik, konstruktivistische Didaktik, inklusive Didaktik, Neurodidaktik, Bildungsgangdidaktik) insbesondere für Musikpädagog*innen eine gute Möglichkeit, das didaktische Repertoire zu erweitern. Da die Arbeit für die Zielgruppe der Leiter*innen junger Erwachsenenchöre verfasst wurde, liegt einer der Schwerpunkte von Kapitel zwei auf der Didaktik in der Erwachsenenbildung. Mit Bezugnahme auf Terhart (2009) arbeitet Nonnweiler hier die Unterschiede zur Schulpädagogik heraus, um dann mit Siebert (2010) auf den vor allem für die Erwachsenenbildung zentralen Aspekt des selbstreferenziellen Anschlusslernens hinzuweisen. Als Zwischenergebnis hält Nonnweiler fest, dass es bislang keine einheitliche bzw. bewährte didaktische Theorie der Erwachsenenbildung gebe, was unter anderem auf fehlende Ausbildungsstandards der Lehrenden zurückzuführen sei. Um die in der Arbeit gestellten Zielsetzungen zu erreichen, fokussiert Nonnweiler auf vier vorrangig in der Literatur zur Erwachsenenbildung diskutierte didaktische Prinzipien. Es sind dies die Zielgruppenorientierung, die Teilnehmerorientierung, das selbstgesteuerte Lernen und die Inhaltsorientierung.
Wesentliche Anregungen für eine an aktuellen Forschungsergebnissen und -erkenntnissen ausgerichtete Chorarbeit enthält auch Kapitel drei (Entwicklungspsychologie), in dem Nonnweiler u. a. das sogenannte interaktionistische Modell skizziert, das die Umwelt und das Individuum selbst als maßgeblich beteiligt an der Entwicklung eines Individuums ansieht. Ein Schwerpunkt des Kapitels liegt auf dem Konzept „Psychologie der Lebensspanne“, das insofern von Bedeutung ist, als Chorleitende wissen müssen, dass nicht nur eine Phase des menschlichen Lebens für die Singtätigkeit von Menschen maßgeblich ist, sondern dass auch alle Phasen davor und danach mitgedacht werden sollten. Mit einem Hinweis darauf, dass es sowohl in Bezug auf das Eintrittsalter als auch die Dauer des jungen und frühen Erwachsenenalters mehrere voneinander unterschiedliche Theorien gibt, geht die Autorin auch auf das Faktum der geschlechtsabhängigen Entwicklungsverläufe von Männern und Frauen ein. Im Zuge der Diskussion von Besonderheiten des jungen Erwachsenenalters führt Nonnweiler das Konzept der „Rush Hour des Lebens“ (Bittmann & Wajcman, 2000) ein und weist darauf hin, dass alle in der Literatur zur Entwicklung von Erwachsenen beschriebenen Transitionen und Entwicklungsaufgaben in einem engen Zeitrahmen stattfinden, die durch zahlreiche Lebensentscheidungen oder auch die Familiengründung geprägt sind. Die Autorin stellt fest, dass die Quellenlage in Bezug auf die Entwicklungsthemen des jungen bzw. frühen Erwachsenenalters nach wie vor dürftig ist.
Einen weiteren großen theoretischen Bezugspunkt für zeitgemäße Chorarbeit präsentiert Nonnweiler in Kapitel vier (Soziologie), in dem das junge Erwachsenenalter als eine neue Phase zwischen der Jugend und dem Erwachsenensein – und nicht mehr nur als Passage – vorgestellt wird. Die Autorin arbeitet heraus, dass sich das Wertespektrum von Jugendlichen und jungen Erwachsenen zusehends verbreitert hat und dass schon seit den 1970er Jahren eine Reihe von Werten wie beispielsweise Selbstentfaltung, Gleichberechtigung und Autonomie in den Vordergrund gerückt sind, während die Bedeutung anderer Werte wie zum Beispiel Materialismus und Autorität zurückgedrängt wurden. Dass möglichst umfassendes Wissen über die Religion und die Religiosität junger Erwachsener – und in weiterer Folge auch über die Kirche – von zentraler Bedeutung für die Chorarbeit mit jungen Erwachsenen im kirchlichen Umfeld ist, liegt auf der Hand. Nonnweiler widmet sich diesem Feld in einem eigenen Unterkapitel und konstatiert mit Bezug auf Derra (2004), dass die christliche Religion zunehmend Bedeutung für Sinngebung und Identitätsstiftung junger Menschen verliert und dass deshalb neue Wege der Vermittlung von Glaubensinhalten gefunden werden müssten. Festgehalten wird, dass die Institution Kirche für die Religiosität junger Menschen kaum mehr eine Rolle spielt, und dass Weltanschauungen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen weitgehend als Ergebnis eines Bastelprozesses (Wippermann, 1996) zu sehen sind. Wie in anderen Bereichen der Arbeit auch greift die Autorin im Abschnitt zu den Freizeitaktivitäten und -motiven auf die Ergebnisse mehrerer Shell-Jugendstudien zurück. Mit diesen kommt sie zu dem Schluss, dass sich die Jugendphase in den letzten 50 Jahren massiv verändert hat und unterstreicht nochmals die Bedeutung von Werten in der Entwicklung von jungen Erwachsenen sowie die je nach Geschlecht variierenden Motive für Freizeitverhalten.
Kapitel fünf (Perspektiven und Ziele) fokussiert nach einer einleitenden Konturierung der Begriffe Chor und Chorarbeit im kirchlichen Umfeld auf die mit diesem Feld verbundenen Disziplinen. Nonnweiler stellt fest, dass die musikpädagogischen Handlungsfelder der Kirchenmusik bisher noch wenig erforscht sind und erörtert die Frage, inwieweit Kirchenmusiker*innen und Chorleitende überhaupt als (Musik-)Lehrende bezeichnet werden können (Nonnweiler, 2023, S. 142). Daran anschließend schwenkt der Blick auf die Entwicklung des Begriffs Kirchenmusik, deren Platz und Funktion im Lauf der Geschichte, um schließlich auf die verhältnismäßig neue Disziplin Kirchenmusikpädagogik fokussieren zu können. Die Aufgabe dieser Disziplin sieht Nonnweiler mit Bezug auf Martini (2002) im Fragen nach den Inhalten, Methoden und übergeordneten Zielen kirchenmusikalischer Ausbildung. Als Richtziele für kirchliche Chorarbeit mit jungen Erwachsenen definiert Nonnweiler schließlich mit Bezug zu Dartsch (2014) folgende musikpädagogischen Richtziele: Musik spüren, Musik meistern, Musik kennen, Musik erschaffen. Für die religionspädagogischen Richtziele greift die Autorin mit Bezug auf Englert (2006) auf vier Komponenten religiöser Kompetenz zurück: Fähigkeit zum Umgang mit religiösen Traditionen, Fähigkeit zum Umgang mit ethischen Konfliktsituationen, Fähigkeit zum Umgang mit existenziellen Krisensituationen, Fähigkeit zum Umgang mit religiöser Pluralität. Als kirchenmusikpädagogische Richtziele definiert sie schließlich mit Bezug auf Bubmanns fünf bildenden Dimensionen der Musik und Kirchenmusik (Bubmann, 2009, S. 120) die Ziele Wahrnehmungsschulung, musikhermeneutische Bildung, liturgische Bildung, Identitätsbildung sowie soziale Bildung und ökumenisches Lernen. Direkt im Anschluss an die in Kapitel fünf beschriebenen Richtziele widmet sich Nonnweiler in Kapitel sechs (Querschnittsthema: ästhetische Erfahrung) einem Feld, das sowohl für Praktiker*innen als auch Forschende in der Musikpädagogik kein Neuland sein dürfte. In der Einleitung stellt sie klar, dass die Ermöglichung ästhetischer Erfahrung im Kontext einer (kirchlichen) Chorarbeit als eine eigene grundlegende Zieldimension angesehen werden sollte. Im weiteren Verlauf definiert sie mit Rückgriff auf zahlreiche Grundlagentexte die Merkmale ästhetischer Erfahrung und denkt daran anschließend über Wege nach, wie ästhetische Erfahrungen im Chor ermöglicht werden könnten.
In den beiden letzten Großkapiteln des Buches geht die Autorin direkt in das Praxisfeld Chor, indem sie einerseits die Inhalte von Chorarbeit und andererseits die dort eingesetzten Methoden in den Blick nimmt. Das bei weitem umfangreichste Kapitel sieben (Inhalte) wird mit der Feststellung eröffnet, dass für die Chorarbeit mit jungen Erwachsenen „bislang keine eigenen Lehrwerke oder Didaktiken und somit auch keine inhaltlichen Konzeptionen“ (Nonnweiler, 2023, S. 195) vorliegen. Im Zuge eines Streifzugs durch gebräuchliche Chorleitungshandbücher fördert sie die entsprechenden Belege für diese These zu Tage. Daran anschließend bespricht sie im ersten Unterkapitel die beiden eng verbundenen Säulen von Chorarbeit, das Singen und die (chorische) Stimmbildung. Nonnweiler greift dabei auf Standardwerke der deutschsprachigen musik- bzw. chorpädagogischen Literatur zurück und kombiniert diese mit seltener rezipierter Literatur aus dem angloamerikanischen Raum. Nach einem Exkurs in die Anthropologie und die Musiktherapie fokussiert die Autorin auf unterschiedliche Dimensionen des Singens, die von der kommunikativ sozialen Dimension über die religiöse bis hin zur künstlerischen Dimension reichen. In den verhältnismäßig knappen Ausführungen zu Stimmidealen (Nonnweiler bezieht sich hier auf einen Ansatz von Brünger [1983], der neben dem einfachen Volksgesang noch die Stimmideale des Gregorianischen Chorals, des Belcanto und des künstlerischen Liedgesangs als typisch für die westeuropäische Kulturgeschichte benennt) legt die Autorin dar, dass sie in den weiteren Ausführungen bewusst nicht auf die vielfältigen stimmlichen Besonderheiten und Effekte popularmusikalischer Stile eingehen möchte, weil diese schwer zu systematisieren seien. Aus Sicht des Verfassers dieser Rezension wäre aber genau das Feld der Popularmusik (inklusive der Bereiche Jazz, Gospel, …) mindestens ebenso wichtig für Chorarbeit mit jungen Erwachsenen, da davon auszugehen ist, dass junge Erwachsene eine große Affinität zur Popkultur haben und deshalb ein Chorrepertoire ansprechend finden, das diese Stile einschließt. Die daran anschließenden Unterkapitel über Stimmbildung und Stimmbildung im Chor bestechen wiederum durch die große Dichte von (vor allem auch historischen) Quellen und durch eine sehr gute Auflistung chorpraktischer Inhalte. Kapitel sieben enthält zusätzlich zum Unterkapitel Singen und Stimmbildung noch zwei weitere Unterkapitel, die in Kapitel vier dieser Rezension genauer besprochen werden, weil sie selten beschrittene Wege in der Chorarbeit aufzeigen.
Kapitel acht (Methoden) beginnt mit einem Hinweis auf die oft unterschiedlich verwendeten Begriffe Probenmethodik, Chorprobenmethoden und Methodik der Einstudierung sowie einer ausführlichen Begriffserklärung. An prominenter Stelle stellt Nonnweiler Methoden des Musizierunterrichts vor, indem sie als erstes die Verfahren und Methoden von Ernst (2012) – erarbeitendes Verfahren, Modell-Methode, darstellendes Verfahren, aufgebendes Verfahren, entdeckenlassendes Verfahren, Dialog-Methode –, daran anschließend die Modellvorstellungen von Methoden von Mahlert (2011) – Der Schüler ist die Methode, die Musik ist die Methode, der Lehrer ist die Methode – und schließlich die Methoden eines Unterrichts in künstlerischem Musizieren nach Dartsch (2019) – Inszenieren, Hinweisen, Repräsentieren, Resonieren – beschreibt. Auch in diesen Abschnitt des Buches flicht die Autorin zahlreiche Vorschläge für die Chorpraxis sowie Beispiele aus der eigenen Chorarbeit ein.

4. Zwei Fallbeispiele für zeitgemäße Chorarbeit (nicht nur) mit jungen Erwachsenen

Wie angedeutet, bilden die Theoriekapitel des vorliegenden Bandes ein Kompendium mit wichtigen theoretischen Schriften, deren Zusammenstellung Wege aufzeigt, um Chorarbeit substanziell weiterzuentwickeln. Darüber hinaus enthält die Arbeit konkrete Anregungen für Chorleitende, die ihre Chorarbeit reflektieren möchten. In diesem Zusammenhang seien im Folgenden zwei Abschnitte aus Kapitel sieben (Inhalte) hervorgehoben, in denen die Autorin zeigt, wie sie neue partizipative Methoden in ihrem Chor ausprobiert und reflektiert.

4.1 Werkreflexion und Musikvermittlung exemplarisch aufgezeigt an einem Chorwerk von Bob Chilcott
Das zweite Unterkapitel im Großkapitel sieben ist mit „Nachdenken über und Deuten von Musik“ (Nonnweiler, 2023, S. 269) betitelt. Nonnweiler hebt hier die Rolle des Sprechens über Musik hervor, welches sowohl in der Chorpraxis als auch in Chorbüchern äußerst selten thematisiert werde. Sie fragt kritisch, wie religiöse und musikalische Bildungsprozesse initiiert werden sollen, wenn es keine Kultur des Fragenbeantwortens in den Chören gebe bzw. wenn Fragen von Chorsänger*innen nur knapp beantwortet werden dürfen. Einen Grund dafür liefert die Autorin selbst, indem sie die in der Kirchenmusik traditionell stark ausgeprägte Aufführungslastigkeit betont. Wollten Chorleitende jedoch tiefgehende Werkreflexion und damit auch nachhaltige Musikvermittlung ermöglichen, so brauche es dafür entsprechenden Raum und vor allem Mut, ausgetretene Pfade der Chorleitung zu verlassen. Nonnweiler tut dies in ihrem Buch exemplarisch, indem sie das Chorwerk „Swansongs“ von Bob Chilcott gemeinsam mit ihren Sänger*innen analysiert und gleich zu Beginn der Probenphase nach der Wirkung der Musik fragt. Takt für Takt und Wort für Wort arbeiten sich Autorin und Sänger*innen durch das Stück, die Chorleiterin hört sich die teilweise weit hergeholten Assoziationen der Gruppe an, gibt Hinweise zur Deutung von Passagen und zeigt sich in ihren Ausführungen als versierte Analytikerin und Moderatorin zwischen den unterschiedlichen Ansichten. Es folgt eine kollaborative Analyse des Gedichtes „Der Panther“ von Rainer Maria Rilke und eine auch aus linguistischer Sicht herausragende Analyse der beiden literarischen Werke, die der Chilcott-Komposition zugrunde liegen. Indem Nonnweiler den Leser*innen ihres Bandes kommuniziert, was sich bei den Sänger*innen durch das tiefere Verständnis des Textes und der Musik ändert (Nonnweiler 2023, S. 310), verleiht sie diesem Abschnitt das Potential, Chorleiter*innen zu ermutigen, ausgetretene Wege in der Chorarbeit – nicht nur mit jungen Erwachsenen – zu verlassen.

4.2 Partizipatives Nacherschaffen und Neuerschaffen von Musik
Nonnweiler unterteilt den letzten Abschnitt von Kapitel sieben in die Bereiche Interpretation und Improvisation und stellt nach einer längeren Einleitung „ein eigenes Modell mit vier Formen der Interpretation im Laienchor mit jungen Erwachsenen“ (Nonnweiler, 2023, S. 346) vor, das sie aus der Analyse der Sekundärliteratur zu Chorleitung und zu partizipativen Prozessen innerhalb von Chorarbeit ableitet. Die erste Form dieses Modells entspricht dabei der in vielen Chören verbreiteten Praxis, dass die Chorleitenden ihre Interpretation eines Chorstückes in die Probe mitbringen und diese sukzessive mit den Sänger*innen erarbeiten. Mit Eckhardt (2019) gesprochen kommt dieser Zugang der „Chor-als-Instrument-Perspektive“ (S. 125) nahe, der gerade für Laienchöre wenig zu empfehlen sei. Die zweite Form des Modells ist der ersten sehr ähnlich, allerdings können die Sänger*innen im Erarbeitungsprozess kleinere Impulse und Ideen zur Interpretation einbringen, die die Chorleitenden übernehmen. In der dritten Form von Nonnweilers Modell wird an die im vorangegangenen Unterkapitel skizzierte kollaborative Phase der Werkreflexion angeknüpft, indem die Chorsänger*innen gemeinsam mit der Chorleitung eine Interpretation erarbeiten. Diese Art der Zusammenarbeit ist nach Nonnweiler von Prozessen des Suchens und Aushandelns und durchaus auch des Streitens geprägt – die Autorin rekurriert hier auf den „ästhetischen Streit“ bei Rolle & Wallbaum (2011) und verweist auch auf die Grundsätze des „Beutelsbacher Konsens“, in dem u. a. das „Überwältigungsverbot“ festgehalten ist (Nonnweiler, 2023, S. 349).
Als wohl progressivste Form der kollaborativen Arbeit an einem Chorstück kann die vierte Form bezeichnet werden, in der von Anfang an die Chorsänger*innen eigenverantwortlich eine Interpretation des Werkes festlegen. Um diese insbesondere in der kirchlichen Chorarbeit neuartige Herangehensweise an die Interpretation eines Chorstücks zu illustrieren, gibt die Autorin ein weiteres Mal Einblick in ihre Chorarbeit. Diesmal wählt sie zur Untermauerung des Gesagten das von ihr komponierte Werk „Den Frieden gebe ich euch“, das sich aufgrund seiner Kürze gut für eine partizipative Probenarbeit eignet. Nach einer Schilderung aller von den Chorsänger*innen geäußerten Gedanken zum Stück, die Nonnweiler an geeigneten Stellen geschickt mit Positionen der Sekundärliteratur verknüpft, beschreibt die Autorin Schritt für Schritt das Entstehen einer Interpretation, die in größten Zügen der vorhin beschriebenen vierten Form entspricht.
In den abschließenden Reflexionen hält Nonnweiler fest: „Im Idealfall führt [die Anwendung partizipativer Vorgehensweisen] dazu, dass die in der Chorarbeit behandelten Werke […] durch das eigene Engagement der CS [gemeint sind die Chorsingenden, Anm. des Verfassers] von diesen auch individuell angeeignet und so zu einem persönlich bedeutsamen Gut und Teil des inneren Reichtums werden.“ Wie im Unterkapitel Interpretation zeigt die Autorin auch in den Ausführungen zu den unterschiedlichen Möglichkeiten im Bereich von (Chor-)Improvisation, dass sie hier eine bisher noch kaum genutzte Ressource für gelingende (kirchliche) Chorarbeit sieht. Sie verweist dabei einerseits auf den Umstand, dass die Improvisation bzw. das Improvisieren in etablierten Handbüchern der Chorleitung kaum bis gar keine Rolle spielt, greift andererseits aber auch zwei jüngere Methoden für das Musizieren in Gruppen auf (Live-Arrangement und Vocal Painting), in denen die Improvisation großen Raum einnimmt. Kritisch merkt sie jedoch auch an, dass gerade in beiden letztgenannten Methoden die Rolle der Chorleitenden wiederum viel stärker ist als die der Chorsingenden. Sie schließt das Unterkapitel mit der Feststellung, dass viele Musiklehrende nur wenig Erfahrung mit Improvisation haben und appelliert an junge Chorleitende, trotz Unsicherheit oder mangelnder Erfahrung, „erste Schritte in die Improvisation mit der Gruppe zu wagen“ (Nonnweiler, 2023, S. 421).

5. Fazit

Die Kirchenmusikerin, Musikwissenschaftlerin und Germanistin Bettina Nonnweiler hat in ihrer Dissertation die Angehörigen einer besonderen Lebensphase in den Blick genommen. Junge Erwachsene sind auf der einen Seite keine Jugendlichen mehr, sie stehen am Beginn einer Berufskarriere, sind mit Themen wie „Partnerwahl/Ehe/Familiengründung/Kinder“ (Havighurst in Anlehnung an Faltermaier et al., 2014, S. 62) beschäftigt und fühlen sich auf der anderen Seite auch nicht den Angehörigen des mittleren oder späten Erwachsenenalters nahe. Während sowohl die Entwicklungspsychologie als auch die Soziologie diese Gruppe in ihren Forschungen seit Jahren im Blick hat, finden sich in der Musikpädagogik und im Speziellen auch in der Kirchenmusikpädagogik erst wenige Arbeiten, die sich explizit mit musikdidaktischen Fragen in dieser Lebensphase beschäftigen. Nonnweiler hat diese Forschungslücke identifiziert und mit akribischer Genauigkeit und nachvollziehbarem Konzept Grundlagen, Inhalte und Methode für eine gelingende Chorarbeit mit jungen Erwachsenen im kirchlichen Umfeld definiert. Um die Ergebnisse zu veranschaulichen, hat die Autorin neben Überblickstabellen eine Reihe von kommentierten Notenbeispielen sowie einen textanalytischen Exkurs in ihre Arbeit integriert. Auch wenn die an früherer Stelle dieser Rezension angeführte forschungsmethodische Schwäche den Gesamteindruck der Arbeit im Bereich der Systematik schmälert, kann diese Arbeit als wichtiges Grundlagenwerk nicht nur für Kirchenmusiker*innen, Dirigent*innen, Chorpädagog*innen und Musikpädagog*innen, sondern auch für benachbarte Disziplinen wie die Allgemeine Pädagogik oder die Bildungswissenschaft empfohlen werden.

Literatur
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Helmut Schaumberger
Gustav Mahler Privatuniversität für Musik
Mießtaler Straße 8
9020 Klagenfurt am Wörthersee
Österreich
E-Mail: helmut.schaumberger@gmpu.ac.at

Forschungsschwerpunkte: Singen mit Kindern und Jugendlichen, Interdisziplinarität in der Musikpädagogik, Fachdidaktik und Unterrichtspraxis, Philosophy of Music Education.

[1] Mit Bezug auf Dartsch (2019) und Niessen (2002) verortet die Autorin das zentrale Feld Chordidaktik zwischen einem „überwiegend künstlerisch reflektierenden Umgang mit Musik“ und den Zielsetzungen einer Allgemeinen Instrumental- und Vokaldidaktik sowie einer Elementaren Musikpraxis (Nonnweiler, 2023, S. 19).