Ermert, Karl (Hg.)
Chormusik und Migrationsgesellschaft
Erhebungen und Überlegungen zu Kinder- und Jugendchören als Orte transkultureller Teilhabe
„Wie funktionieren Chöre, allem voran Kinder- und Jugendchöre, als soziale Kulturorte?“ Denn dass sie mehr als ein Zusammenkommen singbegeisterter Menschen sind, steht außer Frage. Weiter gefragt: „Dienen Kulturorte als Lernorte interkultureller Kompetenz?“
Mit Fragestellungen wie diesen schließen Karl Ermert und viele namhafte KollegInnen aus Theorie und Praxis in der vorliegenden Publikation eine wissenschaftliche Lücke. Von kulturpolitischen Einblicken über Entwicklungen der Stimme und des Chorsingens in verschiedenen Kulturen bis hin zu Praxiseinblicken in transkulturelle Chorleitungsarbeit werden zahlreiche Kontexte mitgedacht. Empirisch geht es jedoch um die Frage, „ob Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund – wie in Teilen der Öffentlichkeit angenommen – tatsächlich in deutschen Kinder- und Jugendchören unterrepräsentiert sind“.
Der Kontext der Erhebungen ist beachtlich, denn bundesweit existieren 60000 Chöre mit zwei bis drei Millionen SängerInnen, davon 700000 aktive Kinder und Jugendliche. Die vorliegende Studie (Laufzeit Oktober 2014 bis April 2016) dokumentiert die Untersuchungen des Forschungsprojekts „Chormusik und Migrationsgesellschaft“ des Arbeitskreises Musik in der Jugend, die Beiträge aus der gemeinsam mit der Bundesakademie für kulturelle Bildung Wolfenbüttel veranstalteten Tagung und Gastbeiträge. Befragt wurden ChorleiterInnen als Schlüsselpersonen zu ihren Chören. Der Rücklauf mit knapp 200 Datensätzen ist jedoch gering. Der Fokus auf die Zielgruppe „Menschen mit Migrationshintergrund“ ist problematisch, macht man sie doch so erst zu einem Thema. Das Erstrebenswerte, mit einer Zielgruppe anstatt über sie zu sprechen, wird in diesem Buch vernachlässigt.
Dennoch sind die Auswertungen informativ und interessant: Kinder- und Jugendchöre sind interkultureller zusammengesetzt, als angenommen wird, und der Migrationshintergrund ist bezogen auf den Kulturort kein bedeutsamer Aspekt.
Das Buch schafft es, die Studie so einzubetten, dass man vielschichtig in das Thema Chorkultur und geografisch bedingte Vielfalt eintaucht. Der Leser wird sensibilisiert für Begriffe, Themen und etwaige Details. Scheu und Vorurteile kristallisieren sich als keine guten Motivatoren heraus. Und wer sagt überhaupt, dass sich Kinder mit Migrationshintergrund mit ihrer deutschen Heimat identifizieren und in einen deutschen Chor einbringen möchten? Die Lektüre des Buchs ist empfehlenswert, auch wenn es sich nicht um ein „Willkommenskultur-Buch“ handelt.
Eva-Maria Kösters