Kertz-Welzel, Alexandra

Community Music

Ein internationales Konzept erobert Deutschland

Rubrik: musikschule )) DIREKT
erschienen in: üben & musizieren 2/2014 , musikschule )) DIREKT, Seite 10

Es gibt viele Arten, Musik zu machen. Ob in einem Gefängnischor, in einer Früherziehungsgruppe, in einer Samba-Band von Behinderten und Nicht-Behinderten, in einer Rockband im Altenheim oder einfach mit Freunden jammen – alle verbindet die Freude an der Musik und an der gemeinsamen musikalischen Erfahrung. Es spielt keine Rolle, ob die Musik gut klingt; ob die Beteiligten Notenlesen können; ob sie musikalisch „begabt“ sind, „normal“ oder verhaltensauffällig; ob sie Klassik, Rock oder World Music spielen. Das einzige, was zählt, ist, dass die Beteiligten Spaß haben, sich persönlich und musikalisch ausdrücken und entwickeln können, sich als Teil einer Gemeinschaft erfahren. Dann sind sie Teil von Community Music.

Eine Annäherung

Community Music ist eines der interna­tional erfolgreichsten musikpädagogischen Konzepte der vergangenen Jahre, das nun auch in Deutschland bekannter wird.1 Im England der 1960er Jahre als Teil der Alternativkultur des Community Arts Movements entstanden, das sozial Benachteiligten Zugang zu Kultur ermöglichen wollte, ist Community Music seit fast 20 Jahren ein wichtiges Konzept in der internationalen Musikpädagogik. Was hat Community Music so populär gemacht? Sicher die pädagogischen Ideale: Inklusion, kulturelle Teilhabe und soziale Gerechtigkeit. Im Mittelpunkt von Community Music steht die Idee, jedem Menschen Zugang zu Musik zu ermöglichen. Die individuellen Interessen und Möglichkeiten sind Ausgangspunkt für musikalische Aktivitäten. Es geht nicht um Perfektion, sondern um Spaß am Musikmachen. Es geht auch um eine musikalische Gemeinschaft, als deren Teil man sich erfährt und in der man sich musikalisch und persönlich weiterentwickeln kann.
Wie kann Community Music diese Ideale verwirklichen? Durch Improvisation, leicht spielbare Musik und Lernen durch Hören bzw. Imitation. Musikalische Vielfalt ist wichtig, gleichgültig, ob Popsongs oder Samba gespielt werden. Die Gemeinschaft stützt den Einzelnen. Jeder beteiligt sich so am Musikmachen, wie es seine momentanen Fähigkeiten erlauben. Lehrerin oder Ensembleleiter haben nur eine vermittelnde Aufgabe, als Facilitator oder Coach. Jeder kann irgendwann selbst diese Rolle übernehmen, wenn er entsprechende Fähigkeiten hat.

Ein Konzept und seine Ideen

Die Ideen von Community Music sind doch nicht neu, oder? Stimmt, sie waren alle schon mal da. Und trotzdem: Die spezifische Kombination von Prinzipien, Methoden und Zielen ist sicherlich etwas Neues. Deshalb noch einmal ein genauerer Blick auf das, was Community Music kennzeichnet:
– Inklusion: Jeder ist willkommen, darf Musik machen, Teil eines Ensembles sein. Es sind keine Vorkenntnisse, besonderen Begabungen oder Fähigkeiten erforderlich (hospitality, inclusion).
– Kulturelle Teilhabe: Jedem Menschen soll ein Zugang zu Musik ermöglicht werden, unabhängig von seinen finanziellen Möglichkeiten und seinem kulturellen oder ethnischen Hintergrund (participation).
– Soziale Gerechtigkeit: Wenn alle Menschen, die wollen, gemeinsam Musik machen, wird musikalisch Teilhabegerechtigkeit verwirklicht. Community Music will versuchen, die Gesellschaft zu verändern. Musik hat für Community Music auch politische Dimensionen. Durch Konzerte mit Musik unterschiedlicher Kulturen kann z. B. auf die Situation einzelner Migrantengruppen aufmerksam gemacht werden. Die Integration von älteren Menschen oder Behinderten in Ensembles kann gesamtgesellschaftliche Möglichkeiten aufzeigen. Besetzung oder Repertoire von Ensembles können auf die Gesellschaftsstruk­tur in bestimmten Stadtteilen hinweisen und durch inklusive Aktivitäten Diskriminierung überwinden helfen (social justice).
– Persönlichkeitsentwicklung: Musikmachen dient nicht nur dem Erwerb musikalischer Kompetenzen, sondern auch dem persönlichen Wachstum. Selbstwirksamkeit als Teil eines Ensembles oder im individuellen Musizieren zu erfahren, ist wichtig (personal growth).
– Musikalisierung der Gesellschaft: Jeder verfügt grundsätzlich über musikalische Fähigkeiten. Sie werden aber oft nicht entwickelt. Musik und Musikmachen sollen wieder ein natürlicher Teil des individuellen und gesellschaftlichen Lebens sein (cultural democracy).
Community Music ist in manchem den Idealen des Laienmusizierens nicht unähnlich, auch Elementarer Musikpädagogik (EMP) verwandt. Die Musikethnologie hatte ebenfalls Einfluss auf Community Music. Es geht bei Community Music vor allem um elementare Formen des Musizierens: Improvisation, vereinfachte Fassungen von Musik verschiedener Kulturen
(z. B. Samba), unproblematische Arrangements von Pop- oder Folksongs usw., die die Teilhabe aller und eine Differenzierung nach verschiedenen Leistungsniveaus ermöglichen. Informelles Lernen, Lernen durch Hören bzw. Imitation und gegebenenfalls ein Verzicht auf Notenschrift unterstützen dies. Der Lehrer agiert nicht als allwissender Experte, sondern als Vermittler und Lernpartner. Jeder kann irgendwann diese Rolle übernehmen. Ebenfalls wichtig für Community Music: Konzerte bzw. Auftritte. Man will Teil des kulturellen Lebens z. B. eines Stadtteils sein und es beeinflussen.

Internationale Community Music

Die Faszination von Community Music in der internationalen Musikpädagogik hat verschiedene Gründe. Ein Grund mag die übertriebene Leistungsorientierung in manchen Ländern sein. In der amerika­nischen Schulband- und Schulorchesterkultur geht es z. B. vor allem um Perfek­tion. Leistungsschwache SchülerInnen sind in vielen Ensembles nicht willkommen. Auch im Instrumental- oder Gesangs­unterricht, z. B. in China, stehen die Vorbereitung auf erfolgreiche Wettbewerbsteilnahmen oder Aufnahmeprüfungen im Vordergrund. Wenn es nur um musikalische Spitzenleistungen geht, werden ästhetische, therapeutische oder soziale Aspekte von Musik oft ausgeblendet. Community Music bietet hier ein Alternativkonzept.
Lee Higgins, englischer Community Musician und Professor für Musikpädagogik, nennt in seinem Buch Community Music in Theory and Practice (2012) einige typische Beispiele für Community Music: Nachmittagsprogramme für ukrainische Jugendliche, die nach der Schule durch Musikunterricht, Tanzangebote oder Theaterproben vor einem Abrutschen ins kriminelle Milieu geschützt werden sollen; Ensembles für verhaltensauffällige Kinder in Schulen im israelischen Haifa; Trommelgruppen in Schottland für Menschen mit psychischen Problemen, die in ihren Aktivitäten unterschiedliche Phasen durch­laufen (von Kleingruppen-Sessions in Klinikräumen und unter Aufsicht von Mit­arbeitern über das Musikmachen in von allen besuchten Klinikräumen bis hin zur Öffnung der Gruppe für neue Mitglieder und neue Orte des Musikmachens); ein Theaterprojekt in Liverpool, bei dem Jugendliche aus Müll Instrumente herstellen und damit musizieren; Bands oder Orchester in brasilianischen Dörfern, bei denen alle mitmachen dürfen; multiethnische Jugendfestivals in Mazedonien; sozial benachteiligte Kinder in Australien erstellen mit Hilfe der Software jam2jam eigene Kompositionen; per Skype werden, von einer amerikanischen Universität aus koordiniert, behinderte und nicht-behinderte Musiker weltweit unterrichtet und musizieren gemeinsam; Workshops für Song­writing, Rap oder Trommeln in englischen Jugendzentren.
Community Music vollzieht sich aber nicht nur in Gruppen oder Ensembles. Auch Einzelunterricht kann von Prinzipien oder Methoden von Community Music geprägt sein. Eine Schülerin kann mit ihrer Lehrerin ihre Fähigkeiten in einer bestimmten Art der Improvisation oder einem bestimmten musikalischen Genre verbessern. Vielleicht will sie später in ihrem Ensemble mehr Verantwortung übernehmen. Ein klarer Gesellschafts- oder Gemeinschaftsbezug des Musikmachens ist auch typisch für Community Music.
Keine Frage, die als Community Music beschriebenen musikalischen Aktivitäten sind faszinierend. Sie zeigen auf, was Musik bewirken kann. Allerdings wird auch klar, dass Community Music nicht un­prob­lematisch ist. Das wird in der internationalen Musikpädagogik oft übersehen. Musikalische Professionalisierung und systematischer Kompetenzerwerb spielen bei Community Music oft nur eine unter­geordnete Rolle. Naive Vorstellungen von der persönlichkeitsverändernden Macht der Musik scheinen einem kritischen Betrachter manchmal wirklichkeitsfremd. Die heilende Wirkung des musikalischen Gemeinschaftserlebnisses ist auch nicht unproblematisch. Und trotzdem: Community Music ist ein interessantes Konzept für Deutschland.

Warum Community Music in Deutschland?

Natürlich gibt es Community Music schon in Deutschland.2 Es gibt Ensembles, in denen Behinderte und Nicht-Behinderte gemeinsam Musik machen. Es gibt Sozial­arbeiter, die mit straffällig gewordenen ­Jugendlichen musikpädagogisch arbeiten. Und es gibt Musiktherapeutinnen, die mit verhaltensauffälligen Kindern in Schulen Trommelworkshops gestalten. Und doch: Das musikpädagogische Konzept Community Music fehlt. Es fehlen oft musikpädagogische Prinzipien und Methoden, um Inklusion, soziale Gerechtigkeit und kul­turelle Teilhabe in Instrumentalunterricht und Ensembles zu verwirklichen. Community Music bietet dies. Durch musika­lische und methodische Vielfalt wird Menschen aller gesellschaftlichen Schichten und Begabungsvarianten ein Zugang zu Musik ermöglicht.3 Community Music verbindet Musikpädagogen, Musiktherapeuten, Sozialarbeiterinnen und Instrumentallehrer durch gemeinsame Ziele und Methoden. Wer sich um die Ideale von Community Music bemüht, wird zum Community Musician.4
Um Community Music als musikpädagogisches Konzept in Deutschland zu etablieren, wurde im Februar 2013 an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) in München im Rahmen eines internationalen Symposiums5 das Munich Community Music Center (MCMC)6 gegründet. Das MCMC versteht sich als Vermittler und Koordinator zwischen internationaler und deutscher Community Music. Durch Forschungsprojekte soll das internationale Konzept Community Music in einer für Deutschland sinnvollen Weise weiterentwickelt werden. Das geschieht auf theoretisch-konzeptioneller Ebene genauso wie auf praktischer Ebene, z. B. durch Abschlussarbeiten von Studierenden zu verschiedenen Community-Music-Projekten. Das MCMC arbeitet zudem im Bereich Networking an einer deutschlandweiten Datenbank zu Community-Music-Akti­vitäten, um die entsprechenden Projekte miteinander zu vernetzen und ihnen die Verbindung zu internationaler Community Music zu ermöglichen. Im Hinblick auf die Praxis bietet das MCMC Auftrittsmöglichkeiten und unterstützt bei Projekten. Zudem finden am MCMC Fortbildungen statt, in deren Mittelpunkt das Konzept Community Music steht.
Community Music bietet neue musikpädagogische Perspektiven.7 In einem Ensemble, in dem Behinderte und Nicht-Behinderte zusammenspielen, sich ältere und jüngere Menschen treffen, wird ein Ideal von Inklusion und Teilhabe praktiziert, das gesamtgesellschaftlich erst noch Realität werden muss. Wenn jeder Musikmachen und persönliche Ziele erreichen kann, verändert dies etwas. Musikmachen im Sinne von Community Music hat gesellschaft­liche Relevanz. Um Community Music in Deutschland etablieren zu können, ist die Mithilfe jeder einzelnen Musikpädagogin, jedes einzelnen Musikpädagogen notwendig, die es wagen, vielleicht ungewohnte Wege zu gehen und sich mit Community Musicians auf der ganzen Welt verbunden zu fühlen.

1 Allgemeine Informationen zu Community Music sind hier zu finden: www.communitymusic.musikpaedagogik.uni-muenchen.de/index.html
2 Alexandra Kertz-Welzel: „Internationalizing and localizing: Shaping community music in Germany“, in: International Journal of Community Music 6, Nr. 3 (2013), S. 263-272.
3 Informationen zu Methoden der Improvisation und Community Music sind hier zu finden: Lee Higgins/Patricia Shehan Campbell: Free to be musical. Group improvisation in music, Lanham 2010.
4 Es gibt auch Studiengänge für Community Music, z. B. am Liverpool Institute for Performing Arts, www.lipa.ac.uk/index.aspx
5 Videos der Präsentationen des Community Music Symposiums 2013 unter http://videoonline.edu. lmu.de/de/sommersemester-2013/4488
6 Website des Munich Community Music Center: www.musikpaedagogik.uni-muenchen.de/ mcmc_deutsch/index.html
7 weitere Informationen zu Community Music in einem Beitrag der neuen musikzeitung unter www.nmz.de/artikel/gegenentwurf-zur-hochkultur