Tröger, Beate

Das Klavier war die Rettung

Gespräch mit dem Schriftsteller Karl-Heinz Ott über sein Schreiben und sein Verhältnis zur Musik

Rubrik: Gespräch
erschienen in: üben & musizieren 3/2012 , Seite 38

Karl-Heinz Ott wurde 1957 in Ehingen an der Donau geboren und studierte Germanistik, Philosophie und Musikwissenschaft. Von 1986 bis 1989 war er Leiter der Schauspielmusik an der Württembergischen Landesbühne in Esslingen, anschließend in dieser Funktion und als Dramaturg an den Städtischen Bühnen in Freiburg tätig. Von 1993 bis 1995 arbeitete Ott als Chefdramaturg der Oper Basel. Seit 1996 ist Karl-Heinz Ott freischaffender Schriftsteller. Er schreibt Romane, Theaterstücke, Radiofeatures und Essays. Auf seinen mehrfach ausgezeichneten Erstlingsroman “Ins Offene“ (1998) folgten die von der Kritik vielfach gelobten Romane „Endlich Stille“ (2005), “Ob wir wollen oder nicht“ (2008) und zuletzt „Wintzenried“ (2011). Auch der Essay „Tumult und Grazie“ (2008), eine biografische Annäherung an Leben und Werk von Georg Friedrich Händel, war sehr erfolgreich. Das Buch erlebte mehrere Auflagen und stand 2009 auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse. 2012 wurde Karl-Heinz Ott mit dem Johann-Peter-Hebel-Preis ausgezeichnet. Karl-Heinz Ott lebt mit seiner Lebensgefährtin, der Theaterautorin Theresia Walser, in  der Nähe von Freiburg.

Karl-Heinz Ott, es gibt in Ihrem Werdegang zwei Kristallisationspunkte: Literatur und Musik. Erzählen Sie mir doch bitte ein wenig über Ihre musikalische Sozialisation.

Ich komme aus einem Haushalt, in dem Musik keine große Rolle spielte. Zur Musik kam ich durch meine Zeit im Internat. Dort und auch später zuhause habe ich, wenn die Schule vorbei war, bis zum Abend täglich etwa fünf Stunden Klavier gespielt, und das sicherlich so fünf oder sechs Jahre lang, bis mir das Lesen genauso wichtig wurde. Ich hatte lange vor, Pianist zu werden. Bis zum Ende der Oberstufe wusste ich nicht, ob die Buchstaben oder Noten in meinem Leben die Hauptrolle spielen sollen, ob ich Musik studieren soll oder Philosophie und Literatur. Die Vorstellung, im Studium täglich acht Stunden Musik zu machen und nicht mehr zum Lesen zu kommen, hat mir dann Angst gemacht. Und ich ahnte wohl doch, dass es zum Solisten nicht mehr reichen würde, denn ich hatte erst mit zehn mit dem Klavierspiel angefangen…

Solist mit dem Klavier ist ja auch ein hohes Ziel.

Eben. Ich war sicherlich kein schlechter Pianist, aber der Wunsch, die Konzertpodien zu erobern, war dann doch illusorisch.

Woher kam Ihre besondere Affinität zur Musik? Es braucht ja Schlüsselerlebnisse, einen Impuls, dass man sich sagt: Ab jetzt setze ich mich täglich fünf Stunden lang ans Klavier.

Ich meine, diesen Moment genau benennen zu können: Mit neun kam ich ins Internat in den oberschwäbischen Wäldern und Sümpfen. Es war ein Internat für Landbuben, die Missionare werden sollten. Meine Mutter brachte mich hin, und ohne dass ich es mir eingestanden hätte, war es ein furchtbarer Tag. Nach der Ankunft saß ich mit anderen Neuen verloren im Innenhof herum, da hörte ich aus dem Speisesaal Klavierklänge. Vom Dorf, aus dem ich kam, wusste ich natürlich schon, wie ein Klavier klingt. Spielen gelernt haben dort aber allenfalls die höheren Töchter. Es war ein Bauerndorf, da war man höchstens bei der Blasmusik oder im Kir – chenchor und hätte als Kind als affig gegolten, wenn man gesagt hätte: „Ich will Klavier spielen.“ Als ich später nicht mehr im Internat war und neben dem Klavier auch Saxofon gespielt habe, verstand niemand, warum ich nicht in der Blaskapelle mitspiele. Zurück zu meiner Ankunft im Internat: Ich saß also da und aus dem Speisesaal schwappten diese Klavierklänge. Zwei Schüler studierten etwas für das abendliche Begrüßungskonzert ein, es war, wie sich herausstellte, Schuberts Militärmarsch. Wie noch nie in meinem Leben war ich gebannt. Das Ganze hatte etwas von Konrad Lorenz und seinen Graugänsen, ich bin sofort hinter dieser Welt hergelaufen, als wäre dort die Rettung zu finden.

Vielleicht ist es kein Zufall, dass es Schubert war?

Morton Feldman hat gesagt, er komponiere überhaupt nur, weil Schubert tot sei. Etwas daran leuchtet einem sofort ein. Für mich als kleinen Jungen, der im Internat schwer Anschluss fand, war das Klavier während der vier Jahre tatsächlich die Rettung. Leider hatte ich einen wenig begeisternden Lehrer. Ich habe mir vieles selbst erarbeitet, kannte einen älteren Schüler, der mir Harmonielehre beibrachte. Das Klavier ist jedenfalls geeignet für Einsame. Während man beispielsweise mit der Geige viel mehr auf andere angewiesen ist, kann das Klavier eine ganze Welt entstehen lassen, ersetzt auch das ganze Orchester.

Ziehen Sie sich heute noch ans Klavier zurück?

Heute spiele ich sehr wenig. Aber unsere fünfjährige Tochter, die wirklich begabt ist, will spielen lernen. Ihr bringe ich jetzt ein bisschen was bei. Wenn das so weitergeht, braucht sie irgendwann einen Lehrer. Ich selbst habe zuletzt 1997 professionell am Theater Musik gemacht, mich dann aber zunehmend auf meine dramaturgische Arbeit verlagert. Wenn man mit dem Instrument länger als ein Jahr aussetzt, merkt man das deutlich. Ich habe es gelassen, weil es mich geschmerzt hat, dass ich früher besser gespielt habe.

Sie haben Ihren ersten Klavierlehrer erwähnt. Gibt es Identifikationsfiguren unter Ihren Lehrern?

Zurück aus dem Internat wurde ich vom Kantor und Organist in Ehingen am Klavier unterrichtet. Viel wichtiger war aber einer meiner Deutschlehrer, den ich zwar nur zwei Jahre lang erlebt habe, der aber meine Hinwendung zur Literatur befördert hat.

War mit dem Studium die Entscheidung gefallen, die Musik gegenüber der Literatur in den Hintergrund zu rücken?

Ja, Musikwissenschaft habe ich nur noch im Nebenfach belegt. Es ging in Tübingen in der dortigen Musikwissenschaft eher langweilig zu. Ich erinnere mich zum Beispiel an ein Seminar, wo wir Ravels Orchestervertonung von Mussorgskys Bilder einer Ausstellung analysiert haben. Da durfte man so Sachen sagen wie: „Jetzt ist die Melodie in der Bratsche und jetzt im Fagott.“ Das kann jeder, der Noten lesen kann, dafür braucht man kein Studium.

Nach dem Studium haben Sie dann aber doch zunächst im musikalischen Bereich gearbeitet, als Leiter der Schauspielmusik. Was genau hat man sich darunter vorzustellen?

Der Leiter der Schauspielmusik ist so eine Art Zwittergestalt. Einerseits ist er für banale Dinge zuständig, wie etwa die Regisseure mit Konserven zu bedienen. Oft ist das kein gutes Zeichen, denn es heißt meistens, dass etwas fehlt. Man muss dann „Atmo“ liefern, eine Tätigkeit, die einem schnell auf die Nerven geht. Die interessanten Tätigkeiten waren solche wie etwa die Vertonung eines unbekannten Brecht-Stücks, Das wirkliche Leben des Jakob Geherda. Wir haben es 75-mal aufgeführt, waren damit in Frankreich und Griechenland auf Tournee. Vertont habe ich auch ein Stück von Jura Soyfer, einem Wiener Schriftsteller der 1920er und 1930er Jahre. Von Verdis Rigoletto haben wir Victor Hugos Bühnenfassung aufgeführt, Le roi s’amuse. Das spielte in einer Art von Edelbar und ich saß am Flügel. Vorher hatte ich die berühmten Arien eine Terz nach unten transponiert, damit sie von den Schauspielern gut zu singen sind. Solche Sachen eben. Dann war da noch dieses Stück, das fast alle mal gemacht haben, The Black Rider von Tom Waits und Robert Wilson, wobei ich sagen muss, dass das gar nicht meine Musik ist. Ich bin zwar kein Popmusikhasser, mag nach wie vor gerne, was ich in meiner Jugend gehört habe, die Beatles, die Rolling Stones oder Bob Dylan. Aber ich kann Popmusik trotzdem nicht länger als eine halbe Stunde hören, sie macht mich oft regelrecht depressiv.

Wie erklären Sie sich das?

Komisch, nicht? Ich habe einfach schnell das Gefühl, die Musik zieht einen runter – das ist mit Klassik nicht so, wobei ich da nicht über Wagner, sondern tatsächlich über die Musik von 1700 bis 1820 rede. Popmusik fand ich früher am ehesten noch da interessant, wo sie in Jazz übergeht. Jahrelang bin ich nach Moers gepilgert, zum New Jazz Festival. Wenn ich heute Jazz höre, denke ich: Ach, es ist auch eher Gedudel, bei allem Wissen, dass es wunderbaren Jazz gibt. Im Grunde ging es mir schon im Internat so, dass die Klassik die größere Faszination auf mich ausgeübt hat, ausgelöst auch durch diese Erfahrung mit Schuberts Militärmarsch.

Wie kam es zur entschiedeneren Hinwendung zum Schreiben beziehungsweise wie kam es dann später, nachdem Sie sich für den Beruf des Autors entschieden hatten, doch wieder zur Hinwendung zur Musik in Form des Händel-Buchs?

Ich war eine lange Zeit auch Operndramaturg, habe am Schauspiel gearbeitet, aber auch an der Oper, war also einer derjenigen, die als Schauspielmusiker und Operndramaturg zwischen den Sparten hin und her switchten. Ich habe fast nie bei einer Oper aktiv als Musiker mit – gearbeitet, einmal bei einer Operette in der Freiburger Zeit saß ich mit den Musikern am Klavier. Als Musikdramaturg hatte ich in Programmheften schon viel über Opern geschrieben. Mit dem Händel-Buch bin ich dann an eine größere literarische Öffentlichkeit getreten.

Es griffe zu kurz, wenn man „Tumult und Grazie“ eine Händel-Biografie nennen wollte. Meiner Meinung nach ist es auch ein Versuch, ausgehend von einem beobachteten Wandel in der Aufführungspraxis alter Musik einen Blick auf die Epoche zu nehmen, in der Händel, über dessen frühes Leben wenig bekannt ist, lebte und arbeitete. Zugleich wird Händel ein Stück weit aus der Verbindung mit Bach gelöst. Was war der Impuls, dieses Buch zu schreiben?

Im Grunde war es eine Selbstbekehrung, eine Saulus- Paulus-Geschichte. Ich erinnere mich gut daran, wie ich vor zwanzig Jahren in Basel in der Kantine saß und zu einem Operndisponenten sagte: „Na, Händel ist ja auf der Opernbühne im Kommen, aber ich finde ihn nach wie vor langweilig, sieht man von einigen Arien ab.“ Und er sagte zu mir: „Komm, sei mal nicht so hochnäsig.“ Und dann hatte ich das Glück, von dem leider viel zu früh verstorbenen Herbert Wernicke nicht nur Inszenierungen von Opern, sondern auch von Oratorien von Händel auf der Bühne zu sehen, Theodora zum Beispiel. Das war großartig, obwohl Theodora nach außen hin so gar nichts Theatralisches mit sich bringt. Die unendlich vielen Chöre können auf der Bühne grauenhaft statisch wirken. Vor allem wenn die Christen singen, klingt es todtraurig, während die Heiden sehr fröhlich anzuhören sind. Die bösen Heiden sind bei Händel musikalisch sehr viel besser ausstaffiert als die frommen Christen (lacht). Jedenfalls waren diese Inszenierungen von Wernicke großartig. Dabei war seine Regie nicht so, dass die Sänger Purzelbäume machen mussten. Er war einfach bühnenbildnerisch meisterhaft, immer gab es diese Inspiration im Bildnerischen, man war in den allermeisten Fällen beim Aufgehen des Vorhangs sofort tief getroffen. Wernicke hat auch dafür gesorgt, dass barock ausgebildete Musiker gespielt haben, nicht nur das Basler Sinfonieorchester. Seine Arbeit hat mir Händel plötzlich näher gebracht, ich merkte, was für ein großer Theatraliker dieser Komponist ist. Eigentlich war das Händel-Buch eine posthume Danksagung an Wernicke.

Beim Lesen von „Tumult und Grazie“ habe ich den Eindruck gewonnen, dass Sie verschiedene Einzel – beobachtungen, Höranalysen, Zeitdokumente so zusammendenken, dass einem unerwartete Bezüge deutlich werden. Wenn das in der Kritik mit einem „Vom-Hölzchen-aufs-Stöckchen-Kommen“ verglichen wurde, wird meiner Meinung nach verkannt, dass es Ihnen um etwas anderes geht.

Es ging mir jedenfalls nicht darum, völlig neue Thesen aufzustellen. Und ich wollte auch kein klassisches Sachbuch schreiben, sondern literarisch und thematisch manchmal saumselig sein dürfen. Das Kapitel über den Barock etwa handelt ja nur gegen Ende von Händel und über zwanzig Seiten hinweg von der Frage, was Barock ist und wo er bis heute hineinspielt. Lacan oder Deleuze sind ja auch Apologeten des Barocken. Ich dachte, das muss in so einem Buch Platz haben, damit es nicht nur eine ordentliche Abhandlung über Händel wird, sondern eines über die ganze damalige Zeit und auch die Wiederauferstehung des Barocken in der Gegenwart. Dass ich ab und zu ins Mäandern geraten bin, war auch dem Zeitdruck geschuldet. Das Buch musste rechtzeitig zum Händel-Jahr herauskommen.

Hatten Sie mit dem Erfolg des Buchs gerechnet?

Nein, zumal drei Monate vorher mein Roman Ob wir wollen oder nicht erschienen war, auf dem mein Augenmerk eher lag, was womöglich damit zusammenhängt, dass ich mich mehr als Schriftsteller denn als Sachbuchautor fühle. Der Erfolg hat mich aber natürlich sehr gefreut.

Stünde nicht Ihr Name auf beiden Büchern, würde man nicht unbedingt mutmaßen, dass sie vom gleichen Autor stammen.

Im Nachhinein habe ich an einzelnen Wörtern gemerkt, wie nah sich die beiden Texte an bestimmten Stellen sind. Im Händel-Buch habe ich oft das Wort „zumal“ verwendet. Dieses Wort ist in Ob wir wollen oder nicht charakteristisch für die fast manischen Unendlichkeitssätze des Ich-Erzählers, die mehr Kommas als Punkte haben. Heute würde ich im Händel-Buch auch manche Sätze stärker unterteilen, die häufigen Relativsätze sind dem Fluss des Romans geschuldet.

Sie haben in einem Radiofeature einmal gesagt, dass Tonlagen oder Klangfarben, alles, was mit der Musikalität der Sprache zu tun hat, Sie beim Schreiben besonders interessiere.

Ja, wobei ich nicht sagen würde, dass der Stoff mich deutlich weniger interessiert.

Wie finden Sie Ihre Stoffe?

Nun, den Stoff an sich gibt es ja nicht. Wenn ich etwas ein wenig anders sage, dann sage ich auch etwas anderes. Man kann das gut an Brecht zeigen. Seine Verse muten manchmal biblisch an, weil er den schlichten Trick der Inversion benutzt: Statt „Ich gehe nach Hause“ schreibt er „Nach Hause gehe ich“. Schon klingt es erhabener. Das Wie ist vom Was nicht zu trennen. Oder wie der Volksmund weiß: Der Ton macht die Musik.

Dennoch würde mich interessieren, welche Eindrücke Ihre Texte hervorbringen.

Ich kann das am Beispiel von Ob wir wollen oder nicht beschreiben. Als meine Mutter noch lebte, fuhr ich jahrelang regelmäßig von Freiburg über den Schwarzwald ins Oberschwäbische. Auf dem Weg gibt es einen Ort, wie es ihn überall auf der Welt gibt. Lange musste ich durch diesen Ort fahren, stand dort, zumindest tagsüber, ständig im Stau, meistens zwischen zwei Lastwagen eingeklemmt. Das Dorf gibt es immer noch, doch irgendwann musste man nach ihm suchen, weil eine hohe Brücke darüber gebaut wurde, die in einen Tunnel führt. Irgendwann habe ich mich gefragt: Was ist eigentlich mit dieser Ortschaft inzwischen los? Ich fand kaum noch ein Hinweisschild, habe dann aber doch den Weg dorthin entdeckt. Das Dorf war aseptisch zu Tode renoviert, so putzig, fein und sauber hatte es früher nie ausgesehen. Aber die Kneipen waren geschlossen, es gab sie gar nicht mehr, auch die Tankstelle war weg. Da habe ich einen atmosphärischen Flash bekommen und dachte, das wäre doch etwas für einen Roman. Ich hatte da natürlich nicht gleich den Stoff, in dem Sinne, dass es in meiner Vorstellung schon diese drei Figuren aus Ob wir wollen oder nicht gegeben hätte, die alle etwas Verlorenes haben oder sogar ins Kriminelle abgleiten. Aber die Atmosphäre, der Spielort waren da. Die Frage war dann: Wie kann ich schreibend etwas herstellen, das dem, was ich empfunden habe, entspricht?

Da sind wir beim Ton. Oder bei der Farbe.

Ja, auch bei der Farbe! Claude Simon, der Nobelpreisträger, der mit seinen Romanen nie große Auflagen erzielt hat und meines Erachtens der einzige Vertreter des nouveau roman ist, der sinnlich schreiben konnte, hat mit Farben gearbeitet. Es gibt ein du-Heft, wo man sehen kann, wie er seine Manuskripte mit bestimmten Farben gestaltet hat. So arbeite ich nicht – ich erzähle das eher, um zu beschreiben, auf welche Weise versucht wird, etwas Atmosphärisches in Sprache umzusetzen. Die Frage ist, ob es gelingt oder nicht – und das merkt man irgendwann. Bei Ob wir wollen oder nicht musste ich ganz schnell mit dem Schreiben anfangen, denn ich hatte einen Preis bekommen und sollte in diesem Zusammenhang einen unveröffentlichten Text lesen. Die Leute meinen ja immer, man hätte ständig etwas in der Schublade, aber das ist bei mir nicht so. Was nicht gearbeitet ist, das ist auch nicht in der Schublade. Und wenn etwas gearbeitet ist, dann veröffentliche ich es. Ziemlich gehetzt musste ich also innerhalb von drei, vier Tagen etwas zu Papier bringen und dachte: Komm, nimm das zum Anlass, den Anfang des Romans anzugehen, was ich aus Angst, den Ton nicht zu finden, monatelang vor mir hergeschoben hatte. Unter Druck setzte ich mich hin und schrieb zwei, drei Seiten ohne Punkt und Komma runter. Es klappte und ich wusste: Das ist jetzt der Ton.

Der Ton war also dem Zwang zu verdanken?

Ja, aber es war eben auch Glück, dass unter dem Zwang tatsächlich ein Ton entstanden ist. Jetzt, in Wintzenried, ist die Sprache vollkommen anders: lakonisch und tendenziell leicht ironisch. Die größte Mühe hat mir aber auch hier das Finden des Tons gemacht. Mir war klar, dass es auf keinen Fall ein Tonfall wie in Ob wir wollen oder nicht werden darf, ich nicht diese langen Sätze verwenden kann, in denen man sozusagen verschwimmt, was ja einen Seelenzustand ausdrückt. Lange hatte ich bei Wintzenried Angst, der Text könnte zu sehr ins Anekdotische abdriften. Als ich aber den Ton gefunden hatte, lief es plötzlich, weil ich dann klar sagen konnte, welche Sätze nicht stimmig sind. Doch das Finden des Tons ist keine Sache des Willens, es ist auch Glück.

Hilft Ihnen Musik dabei? Etwa das Hören bestimmter Musik aus Rousseaus Zeit?

Nein. Es sollte ja keine historische Folklore werden. Dabei gibt es von Rousseau selbst ja Musik, Der Dorfwahrsager, eine putzige Rokokomusik, bei deren Hören man allerdings auch weiß, warum das Stück nicht auf unseren Spielplänen steht. Das Hören von Musik hilft mir nicht auf der Suche nach dem richtigen Ton. Es ist eher so, dass etwas Atmosphärisches in mir drin ist. Man spürt und fühlt es, kann es aber nicht benennen. Danach sucht man. Aber es ist keine bestimmte Musik. Ganz abgesehen davon fällt es mir schon schwer, nur Zeitung zu lesen, wenn Musik läuft. Sie absorbiert mich einfach.

Woran werden Sie als nächstes arbeiten?

Es wird ein Roman werden. Derzeit sammle ich Material, bin mir noch nicht einmal über alle Figuren im Klaren. Es werden aber mehr Figuren sein als in den bisherigen Romanen, sicherlich fünf oder sechs. Aber lassen wir dieses Thema noch im Vagen…

…im Offenen…

(lacht) … ja, genau, im Offenen.