Herbst, Anna

Das räumliche Denken in der Musik

Wege zum inneren Hören beim Instrumentalspiel, dargestellt am Klavier

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Die blaue Eule, Essen 2011
erschienen in: üben & musizieren 2/2012 , Seite 56

Titel und Untertitel des Buchs weisen auf grundlegende und dennoch viel zu selten thematisierte Inhalte und Ziele instrumentalen Lernens hin, deren Hintergründe sich bereits in den Schriften des Musiktheoretikers Ernst Kurth, Begründer der Fachdisziplin „Musikpsychologie“, zu Beginn des 20. Jahrhunderts finden. Danach ermöglicht räum­liches Denken als Grundphänomen des Musizierens in Zusammenhang mit der Spieltechnik einen körperbezogenen Zugang zum inneren Hören von Musik. Das innere Hören korrespondiert  beim Spielen eines Instruments mit der physischen Bewegung des Körpers, sodass sich musika­lisch-räumliches und motorisch-räumliches Denken als Funk­tionsträger von geistigen Vorstel­lungen ergänzen. Ein wesent­liches pädagogisches Ziel des Buchs ist es, verschiedene Möglichkeiten zur Herausbildung räumlichen Denkens durch eine mehrdimensionale assoziative Arbeit der Sinne aufzuzeigen.
Anna Herbst beginnt mit einer ausführlichen Einführung in die Theorie Kurths sowie deren Erweiterung unter Mersmann, Assafieff, Wellek und Albersheim. Nachfolgend beschreibt sie      unter ständiger Bezugnahme auf diese Theorien in zwei Teilen den Weg von der einfachen (räum­liches Hören der Töne) zur komplexen Räumlichkeit (harmonische Zusammenhänge und Tonalität) der Musik. Zahlreiche Notenbeispiele, Modelle, Grafiken, Bilder und Fotos von Körperbewegungen veranschaulichen und ergänzen die Erklärungen und bewirken neben allgemeinen methodisch-didaktischen Hinweisen einen engen Bezug zum Instrumentalunterricht.
Im anschließenden dritten Teil zeigt die Autorin pädagogisch-psychologische Grundlagen zum räumlichen Denken auf, ohne hierbei den instrumentalpädago­gischen als auch den didaktisch-methodischen Bezug zu vernachlässigen. In diesem Zusammenhang dürfte jedoch hinsichtlich der Wahrnehmung von Musik die Unterscheidung zwischen linker und rechter Hemisphäre mittlerweile veraltet sein (vgl. hierzu Jäncke 2008). Im Anhang findet sich schließlich der ganzheitliche klaviermethodische Bezug zum ersten Teil des Buchs. Die Autorin bezieht hierbei jedes Kapitel auf eines der Kapitel im ersten theoretischen Teil.
Anna Herbst beschreibt und entwickelt einen sehr interessanten theoretischen und nicht nur historisch bedeutenden musikpsychologischen Ansatz für das ­instrumentalpädagogische Denken und Handeln. Sie breitet für den interessierten und geduldigen Leser eine vielschichtige Gedankenwelt aus, die neben bekannten Theorien und praktischen Hinweisen (auch für Nichtpianisten) auch zahlreiche neue Betrachtungen aufweist, die für jeden Instrumentalunterricht bedeutsam sind. Dem anspruchsvollen Thema des künstlerischen Umgangs mit Musik wird sie hierbei in beeindruckender Form gerecht.
Romald Fischer