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Behschnitt, Rüdiger

Das Wirken der Töne im Verbund

Grundkenntnisse der Harmonielehre ­können den Zugang zu Werkverständnis und Interpretation erleichtern

Rubrik: Methodik
erschienen in: üben & musizieren 1/2020 , Seite 52

„Geh, du alter Esel, hole Fische“; ­temperierte Stimmung; pythagoreisches Komma: Je tiefer man sich in die un­serem westlichen Tonsystem zugrundeliegende Systematik ein­arbeitet, umso mehr müssen sich auch gestandene Musikerinnen und Musiker eingestehen, dass sie so ­manchen Sachverhalt nicht mehr ­vollständig nachvoll­ziehen können.

Für Kinder, die in der Schule im Fach Musik mit Harmonielehre konfrontiert werden – oft ohne je selbst ein Instrument gespielt zu haben –, beginnt das Unverständnis gegenüber der „trockenen“ Materie meist deutlich früher. Noch gut im Gedächtnis ist mir die Reaktion meines Sohnes, nachdem er im Musikunterricht über mehrere Stunden hinweg den Unterschied von Dur- und Molltonleitern anhand der unterschiedlichen Lage von Halbtonschritten erklärt bekommen hatte und wir ihm in Vorbereitung der anstehenden Klassenarbeit ein paar Beispiele am Klavier vorspielten. Mit großer Verblüffung äußerte er eine Erkenntnis, die ihm offensichtlich in diesem Moment gekommen war: „Ach, man kann den Unterschied von Dur und Moll auch hören?“
Im Instrumental- oder Gesangsunterricht haben Lehrkräfte es, so sollte man meinen, deutlich leichter: Ergeben sich dort doch Fragen zur Harmonik aus der konkreten Beschäftigung mit der Musik fast zwangsläufig. Am ehesten ist hier natürlich an den Bereich der Rock- und Popmusik zu denken. Jedes Lead-Sheet konfrontiert den Interpreten mit der Tatsache, dass die notierte Melodie erst durch Hinzufügen der mit Akkordsymbolen angegebenen Harmonien ihr volles Potenzial entfaltet. Und schnell ist man dann beim Begleiten des eigenen Gesangs mit Gitarre oder Klavier bei der Frage, weshalb gerade diese harmonische Verbindung an dieser Stelle steht, ob womöglich auch eine andere denkbar wäre und wie das Klangergebnis bei der einen wie der anderen Entscheidung ausfällt. Beschäftigung mit Harmonielehre aus intrinsischer Motivation heraus…
Beim Unterricht am Melodieinstrument im Be­reich der klassischen Musik ist die Situation etwas anders. Man kann sich als Geigerin oder Flötist lange mit Werken beschäftigen, ohne sich über die ihnen zugrundeliegende Harmonik Gedanken zu machen. Doch auch hier wird das Bewusstmachen harmonischer Spannungsverläufe einen Zugang öffnen zu einem tieferen Verständnis der zu interpretierenden Werke. Man denke etwa an Bachs Solopartiten (sowohl für Violine als auch für Flöte), deren Harmonik in den Melodieverlauf geradezu eingeschrieben ist.
Egal ob Pop, Rock, Jazz oder Klassik, Harmonie- oder Melodieinstrument, intrinsische Motivation oder extrinsische: Ein Grundverständnis vom Zusammenklang, „dem Wirken der Töne im Verbund“, wie es Julian Oswald in seinem Crashkurs Harmonielehre formuliert,1 ist für die Beschäftigung mit Musik zentral. Und Harmonie in einem umfassenderen Sinne ist nicht nur musikalisch von Bedeutung. Denn Harmonie oder „Ebenmaß“, so die direkte Übersetzung des altgriechi­schen Begriffs „harmonia“, spielt in allen Formen der Kunst eine Rolle – wie auch in unserem Zusammenleben mit anderen.
Wir erinnern uns: Abgeleitet aus der beim Erklingen eines natürlichen Tons gleichzeitig mitschwingenden Obertonreihe ergeben sich die für unsere Kultur konsonant klingenden Intervalle aufgrund ihrer einfachen Schwingungsverhältnisse – Einklang (1:1), Oktave (1:2), Quinte (2:3) und Quarte (3:4). Solche durch einfache Brüche darstellbaren Proportionen empfinden wir offenbar auch in anderen Zusammenhängen als ebenmäßig, als harmonisch. In einer faszinierenden Deutung beschreibt der Musiksoziologe Christian Kaden (1946-2015) anhand der unterschiedlichen Materialien, der Verteilung der Fenster und Säulen die Proportionen des Palazzo Pubblico an der Piazza del Campo in Siena als „Musik der Stille“:
„Jedenfalls verwirklicht die Mittelfassade […] eine überaus konsistente Zahlenordnung: die Sequenz 4:4, 2:4, 3:2, 5:4 oder, sofern man die multiplen Relationen kürzt, die Folge 1:1, 1:2, 3:2, 5:4. Das sind, mit Ausnahme der Proportion 4:3, die ausgespart wurde, laut pythagoreischer Überlieferung die einfachsten ganzzahligen Brüche. Oder sofort übersetzt in einen anderen, aber kompatiblen Denkmodus: Es handelt sich, ebenfalls nach Pythagoras, um die elementarsten musikalischen Intervalle. […] Die gleiche Struktur findet sich zudem in der Naturtonreihe […]. Die Proportionsfolge 1:2:3:4:5, die auf dem Palazzo Pubblico geschrieben steht, akzentuiert mithin die ersten fünf, d. h. die gewichtigsten Teiltöne. […] Aber selbst wenn man dergleichen als gewaltsame Konstruktion verwürfe, die Summe aus dem Ganzen bliebe unausweichlich: das Gebäude zelebriert exakt jene Proportionen – und ausschließlich jene –, die von der Musiktheorie des 13./14. Jahrhunderts als höchstharmonische Zusammenklänge, als Konsonanzen verstanden wurden.“2
Wie die einzelnen Teile sich zueinander verhalten, welche Beziehungen sich zwischen ihnen ergeben, ist in Architektur, bildender Kunst und Musik gleichermaßen ein Schlüssel zum Verständnis eines Werks. Und um die Proportionen und Spannungsverläufe einer musikalischen Komposition zu erfahren, sind Grundkenntnisse beispielsweise von Kadenz und Trugschluss, Vorhalt und Auflösung, sprich: Grundlagen der Harmonielehre hilfreich. Lehrkräfte sollten sich daher nicht scheuen, ihren Schülerinnen und Schülern von Anfang an einen Zugang zu diesem Gebiet der Musiktheorie zu eröffnen.


1 Julian Oswald: Crashkurs Harmonielehre. Grundlagen Klassik – Pop – Jazz, Mainz 2016, S. 5.

2 Christian Kaden: Das Unerhörte und das Unhörbare. Was Musik ist, was Musik sein kann, Kassel 2004, S. 14.

Lesen Sie hier zwei Kapitel aus Crashkurs Harmonielehre: Funktionstheorie und Kadenz

 

Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 1/2020.