Kaufmann, Michael / Stefan Piendl
Das Wunder von Caracas
Wie José Antonio Abreu und El Sistema die Welt begeistern
Es ist der europäischen Musikszene bestens bekannt, das Simón Bolívar Youth Orchestra mit seinem Dirigenten Gustavo Dudamel. Dass ein Kinder- und Jugendorchester aus Venezuela binnen weniger Jahre einen solchen Aufstieg zu verzeichnen hat, ist an sich schon ungewöhnlich; dass viele seiner Mitglieder aus den sozialen Brennpunkten von Caracas stammen, noch mehr.
Das Wunder von Caracas beschäftigt sich ausführlich mit diesem erstaunlichen Phänomen. Im Mittelpunkt steht dabei José Antonio Abreu, Gründer, Leiter und Mentor der venezolanischen Orchesterbewegung. Der Werdegang des 1937 geborenen Abreu wird ausführlich nachgezeichnet: sein Aufstieg zum Orchesterdirigenten und zum einflussreichen Kulturpolitiker seines Landes; seine 1975 vollzogene Gründung eines kleinen, aus jungen Musikern bestehenden Orchesters, das zur Keimzelle für ein differenziertes System einer Orchesterbewegung, El Sistema genannt, wird.
Mit der von ihm initiierten und geleiteten Orchesterbewegung verfolgt Abreu zwei Ziele. Zum einen die Reform der Ausbildung der jungen Musiker, indem er auf ein Tutorensystem und auf das Lernen in künstlerischem Kollektiv setzt, zum anderen die Behebung sozialer Missstände. Die Teilnahme am Unterricht der landesweit gegründeten Musikschulen soll den Heranwachsenden dazu verhelfen, an Bildung zu partizipieren und sogar eine musikalische Berufsausbildung zu erlangen. Insofern versteht sich El Sistema als ein „Sozialmusikprojekt“.
Die beiden Autoren entfalten ihr Thema, indem sie vor allem einzelne Personen, die für El Sistema wichtig sind, vorstellen. Historische, ökonomische, soziale und politische Daten zu Venezuela werden nur am Rande gestreift. Das liegt explizit in der Absicht der Autoren, die „kein politisches Buch“ schreiben wollten. Freilich hat das Fehlen von soziologischen Kategorien zur Beschreibung der gesellschaftlichen Verhältnisse Venezuelas Konsequenzen: Die Nahtstelle zwischen dem immanent musikalischen und dem Sozialmusikprojekt bleibt unbestimmt. Die an Personen orientierte Darstellung erfasst lediglich die Spitze der El-Sistema-Pyramide, also jenen Ausschnitt, der sich dem Musikmarkt gut fügt.
Es ist auffallend, dass im ganzen Buch nur von europäischer, aber nicht von lateinamerikanischer Musik die Rede ist. Die breite Grundfläche der Pyramide bleibt außen vor – also ausgerechnet jener Teil, in dem sich zeigen müsste, ob El Sistema gesellschaftspolitische Veränderungen bewirkt oder nur willkommenes Feigenblatt für eine korrupte gesellschaftliche Elite ist. An dieser Stelle macht sich der nicht unproblematische Titel des Buchs bemerkbar, weil die entpolitisierte Kategorie „Wunder“ das Eigenverständnis von El Sistema, mit Musik „Geschichte zu schreiben und die Zukunft Venezuelas zu verändern“, noch prolongiert, statt es auf seine postulierten Voraussetzungen hin zu befragen.
Winfried Rösler