Erben, Eva

„Den Himmel berühren“

Die Musikpädagogin Frieda Loebenstein (1888-1968), Forum Musikpädagogik, Augsburger Schriften (hg. von Rudolf-Dieter Kraemer), Band 152

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Wißner, Augsburg 2021
erschienen in: üben & musizieren.research 2021

 

Frieda Loebenstein (1888-1968):

„eine herausragende Reformpädagogin im Bereich des Klavierunterrichts“


Rezension zu:
Erben, Eva (2021). „Den Himmel berühren“. Die Musikpädagogin Frieda Loebenstein (1888-1968), Forum Musikpädagogik, Augsburger Schriften (hg. von Rudolf-Dieter Kraemer), Band 152. Augsburg: Wißner. 388 Seiten, 39,80 €, ISBN 978-3-95786-260-0

Rezensentin: Silke Kruse-Weber
Rezension veröffentlicht am: 13.12.2021

1. Einführung

Die Dissertationsschrift von Eva Erben über das Leben und Wirken der Musikpädagogin Frieda Loebenstein (1888-1968) wurde im Bereich der Instrumental- und Gesangspädagogik eingereicht und 2021 im Wißner-Verlag als Monografie publiziert. Die Rezension gliedert sich erstens in eine Einführung in Leben und Werk von Loebenstein, beschreibt zweitens das Anliegen und den Aufbau der Arbeit, erörtert drittens das wissenschaftliche Vorgehen (Fragestellung, Einordnung in den fachwissenschaftlichen Diskurs, Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand) und wird schließlich durch eine zusammenfassende Bewertung der (wissenschaftlichen) Ergebnisse abgerundet.

Loebensteins Lebensweg führt von ihrem Geburtsort Hildesheim über die Studien- und Berufsjahre in Berlin (1912-1933) und bedingt durch ihre jüdische Herkunft über verschlungene Pfade in die Emigration nach Brasilien (1939-1968), wo sie bis zu ihrem Lebensende in einem Kloster als Benediktinerin lebt. Erben stellt fest, dass Loebenstein auch als Schwester Paula, also als konvertierte Christin, ihre jüdischen Wurzeln nie verleugnet oder vergessen habe (Erben, 2021, S. 37). In ihrer Zeit im klösterlichen Exil stellt Loebenstein ihr musikpädagogisches Wirken in den Dienst der Kirche und Liturgie.

Im Berlin der „Goldenen Zwanziger“ arbeitet Loebenstein im räumlichen und zeitlichen Umfeld von u. a. Hans Mersmann, Fritz Jöde, Leo Kestenberg und Georg Schünemann. Zwischen 1921 und 1930 ist Loebenstein in Berlin an verschiedenen Institutionen tätig. Sie arbeitet als Lehrerin für Gehörbildung am Sternschen Konservatorium, unterrichtet im Rahmen der Staatlichen Lehrgänge für Volks- und Jugendmusikpflege an der Staatlichen Akademie für Kirchen- und Schulmusik das Fach Gehörbildung und zur gleichen Zeit lehrt sie am Seminar für Musikerziehung an der Hochschule der Künste. Hier arbeitet sie zusammen mit Georg Schünemann an einer reformpädagogisch geprägten Musikerziehung für den Klavierunterricht. Instrument und Stimme bilden in diesem Unterricht Mittel des musikalischen Ausdrucks und die Bildung der Musikalität wird als vorrangiges Ziel betrachtet (Schünemann, 1927, S. 283). Wie zahlreiche MusikpädagogInnen des Zeitraums wendet sich Loebenstein gegen eine Instrumentalausbildung, deren Ziel allein darin bestehen sollte, zu einer möglichst „umfassenden Beherrschung des Instruments“ (Loebenstein, 1927, S. 3) zu gelangen. Loebenstein geht es darum, Musik und Lernende zu verstehen und ein Verständnis für Musik zu vermitteln. Das Klavier bildet hierbei ein „musikpädagogisches Mittel“ (Loebenstein, 1932, S. 1). Die Verbindung von Musiktheorie, Gehörbildung (basierend auf der Tonika-Do-Lehre) und Improvisation zielt auf ein „Erschließen des Musikalischen“ – so der Untertitel ihrer Schrift Der Erste Klavierunterricht (Loebenstein, 1927). Die Tonika-Do-Lehre dient Loebenstein als zentrales methodisches Mittel, um die der Musik immanenten Bewegungstendenzen als energetisches Bewegungsgeschehen im Wechsel von Spannung und Lösung erfahrbar, begreiflich und lebendig zu machen – sowohl im Anfangsunterricht für Klavier als auch in der Vermittlung von gregorianischen Gesängen, die im Exil im Zentrum ihrer musikpädagogischen Arbeit stehen.

In den Jahren 1925 bis 1932 entstehen drei klavierpädagogische Konzeptionen von Loebenstein, die in facheinschlägigen Kreisen der Tonika-Do-Lehre (Losert, 2011) sowie der „musikwissenschaftlichen Frauen-Exilforschung“ (Brade, 1999; Rhode-Jüchtern, 2008) und in der Klavierpädagogik als modern – innovativ – vorausschauend (Titel des Aufsatzes von Kruse-Weber, 2004) oder als Pionierin (Kruse-Weber, 2006, S. 52) und bezogen auf die reformpädagogischen Leistungen im Bereich des Klavierunterrichts als „herausragend“ (Mahlert, 2011, S. 211) gewürdigt werden. Loebensteins instrumentaldidaktische Konzeptionen können sich durchaus einreihen in eine moderne musizierpädagogische Praxis, insofern alles Lernen und Lehren in einem interaktiven Unterrichtsgeschehen auf Anschaulichkeit, Sinnlichkeit und Selbsttätigkeit beruht und im Wechsel von Singen, Hören und Spielen geschieht.

Seit ihrer Entlassung von der Hochschule Berlin setzt sich Loebenstein mit der Gregorianik auseinander und unterrichtet und publiziert auch in portugiesischer Sprache (Erben, 2021, S. 133, 253). Man erfährt von der Autorin, wie die Konversion Loebenstein nicht vor den Repressalien durch die Nationalsozialisten bewahrte und Auswanderungspläne nach Brasilien in ein Benediktinerinnenkloster immer deutlicher wurden. Im Kloster Abadia de Santa Maria bildet Loebenstein ihre Mitschwestern und Novizinnen und später auch auswärtige Ordensleute im gregorianischen Singen aus.

2. Anliegen und Aufbau der Monografie

Erben zeichnet mit ihrer Monografie über die Musikpädagogin Frieda Loebenstein erstmalig ein „Gesamtporträt“, „das zum einen erkennen lässt, welche musikpädagogische Haltung sie einnahm, welches Motto ihre musikpraktische Arbeit bestimmte und zum anderen, welche Art von Mensch hinter den fortschrittlichen Ideen, die sie zweifelsohne vertrat, steht“ (Erben 2021, S. 13).

Die Lebensgeschichte und das vielfältige musikpädagogische Wirken Frieda Loebensteins möchte Erben in den pädagogischen, kulturellen und gesellschaftlichen Kontext der Zeit einbetten (Erben, 2021, S. 24). Sie geht davon aus, dass nur durch eine Betrachtung, die das Leben Loebensteins mit ihrem Wirken verbindet, ein tiefes Verständnis ihrer Persönlichkeit möglich und sinnvoll ist. Erben beruft sich auf den Historiker Bernhard Fetz und versucht, in die „Kontaktzone zwischen Werken, Handlungen und Ideen und den Bedingungen ihrer Hervorbringung in der Lebenspraxis [einzudringen]“ (Fetz, 2009, S. 435 zit. nach Erben, 2021, S. 13). Dieses Vorgehen ist zunächst nachvollziehbar.

Erben strukturiert ihre Arbeit in zwei Teile: erstens eine chronologische Darstellung und zweitens eine sachlogische Systematik. Loebensteins Leben und Wirken entfaltet Erben anhand der „großen Themen Musik und Religion“ (Erben, 2021, S. 29). Sie legt im ersten Teil ihrer biografischen Darstellung Loebensteins (Erben, 2021, S. 29–160) das religiöse Lebensmotto „Den Himmel berühren“ (Erben, 2021, S. 318) zugrunde und rekonstruiert insgesamt „drei Leben“: Loebensteins erstes Leben als deutsche Jüdin (bis 1933), das zweite Leben als Konvertitin (bis 1939) und schließlich das dritte Leben (bis zu ihrem Tod 1988), in welches wir Einblick in die Zeit der Abgeschiedenheit als Benediktinerin im Kloster Abadia de Santa Maria in São Paulo, Brasilien, gewinnen. Die Lebensabschnitte werden jeweils zu Beginn mit einer biografischen Skizze eröffnet und am Ende mit der Nennung von relevanten Schriften des Zeitraums umrahmt. Ab dem Lebensabschnitt als Konvertitin wird den LeserInnen deutlich, dass Musik(pädagogik) und Religion bei Loebenstein eng verknüpft sind. Auch wird LeserInnen durch die zahlreichen verschiedenen Quellen große Empathie für Loebensteins Persönlichkeit ermöglicht. Für die Kategorie des so genannten ersten Lebens als „deutsche Jüdin“ hätte man sich gewünscht, mehr dazu zu erfahren, was die Autorin unter diesem Begriff versteht und wie sich dieses Leben auf die musikpädagogische Arbeit Loebensteins (eventuell auch nicht) ausgewirkt hat und in Beziehung zu den KollegInnen ihrer Zeit steht.

Der zweite Teil des Buchs (Erben, 2021, S. 161–314) legt den Fokus auf das musikpädagogische Wirken Loebensteins und zeigt die Konzeption des musikpädagogischen Handelns der Musikpädagogin Loebenstein diesmal aus der systematischen Perspektive auf: Loebenstein als Musikpädagogin, Gehörbildungslehrerin, Klavierpädagogin und Chorleiterin. In den Kapiteln 1 bis 3 dieses zweiten Teils werden die zeitgeschichtlichen Strömungen Reformpädagogik, Jugendmusikbewegung, Kestenberg-Reform und Frauenbewegung thematisiert, gefolgt von Loebensteins „Leitgedanken“ „Menschenbildung durch Musik“, „lebendige Musikunterweisung“ und „Musik ist Bewegung“ und der Tonika-Do-Methode (Erben, 2021, S. 15). In Kapitel 4 werden die „Hauptschriften“ zur Gehörbildung, Klavierpädagogik und Gregorianik der Protagonistin sowie im direkten Anschluss VertreterInnen der Fachgebiete Musikpädagogik, Musikwissenschaft, Psychologie und Pädagogik betrachtet, da sie Loebenstein maßgeblich beeinflusst haben. Kapitel 6 nimmt die Würdigung von SchülerInnen und Studierenden in den Blick, um schlussendlich die „Bedeutung von Leben und Wirken Frieda Loebensteins für die Musikpädagogik“ (Erben, 2021, S. 15) zusammenzufassen.

3. Forschungsmethodisches Vorgehen

Mit ihrer Arbeit möchte Erben jeweils einen Beitrag zur Historischen Musikpädagogik, Instrumentalpädagogik, Gender- und Exilforschung leisten. In der Beschreibung des Forschungsstandes nennt Erben zahlreiche Quellen zwischen 1999 und 2008 der Musik- bzw. Instrumentalpädagogik sowie Exil- und Genderforschung (Erben, 2021, S. 15–19), die sich mit Loebenstein auseinandersetzen.

Erben verfolgt die Frage, „welche Impulse Frieda Loebenstein für die Musikpädagogik ihrer Zeit gab“ (Erben, 2021, S. 13). Sie bezieht hierfür ein vielfältiges Quellenmaterial ein: Dies sind zunächst die Publikationen von Loebenstein selbst, welche aus Lehrwerken und Aufsätzen zur Musikpädagogik der Zeit bestehen. Weiterhin spürt Erben zahlreiche Manuskripte im brasilianischen Exil Abadia de Santa Maria im Nachlass Loebensteins auf. Die Schriften bestehen aus deutschsprachigen und ab 1952 auch aus Quellen in portugiesischer Sprache. Ebenso befinden sich autobiografische Aufzeichnungen wie zum Beispiel zwei handschriftlich verfasste Lebensläufe in diesem Nachlass. Erben datiert diese „Memoiren“, in denen Loebenstein über ihre Geburtsstadt Hildesheim, ihre Eltern und die häusliche Atmosphäre berichtet, auf jeweils „1937 und 1939 anlässlich ihres Eintritts bei den Johannesschwestern von Maria Königin in Leutesdorf und den Benediktinerinnen in São Paulo“ (Erben, 2021, S. 20). Weiterhin bezieht Erben Briefe über die gesamte Lebensspanne von und an Loebenstein sowie Akten aus Archiven wie dem Universitätsarchiv der Humboldt-Universität zu Berlin und dem Universitätsarchiv der Universität der Künste Berlin, Jahresberichte, Rezensionen ihrer Schriften sowie sogenannte „Erinnerungsliteratur“ (Erben, 2021, S. 19) in ihre Untersuchung ein.

Als wissenschaftliches Verfahren für die Darstellung ihres umfangreichen Quellenmaterials wählt Erben die „literarische Montage“, welche auf Walter Benjamin zurückgeht. Dieser Ansatz ist interessant im Rahmen einer wissenschaftlichen Arbeit: Erben wählt, arrangiert, interpretiert und kontextualisiert das vielfältige Quellenmaterial aus verschiedensten Textsorten wie u. a. eigenständige Publikationen, Aufsätze, Briefe, autobiografische Aufzeichnungen, Manuskripte, Akten, Jahresberichte und ordnet sie den verschiedenen Lebensabschnitten zu. Das Montageprinzip berücksichtigt wesentliche Komponenten für eine dokumentarische Geschichtsdarstellung (Füßmann, 1994). Dies sind Retrospektivität, aus der heraus Vergangenes gedeutet wird, Perspektivität und Standortgebundenheit, die selektive Auswahl historischer Momente, die Anordnung und Verknüpfung in der Sequenzialität des Materials, die kommunikative Ausrichtung auf einen Kreis von AdressatInnen und Partikularität bzw. Lückenhaftigkeit von Geschichtspräsentationen (Borchard, 2003, S. 241; Füßmann, 1994, S. 32–36; Erben, 2021, S. 26). Nach diesen Kriterien würde aus einer reflektierten Montage Transparenz für die Zuschreibungen, Interpretationen, Selbstdeutungen und Fremdwahrnehmungen entstehen. Man würde explizit mit einer Vielfalt von überraschenden und oft einander widersprechenden Sichtweisen oder ergänzenden Perspektiven konfrontiert. LeserInnen erfahren keine Empathie, sondern Distanz und Reflexion (Borchard, 2003, S. 239–240). In dieser Art von Montage würden „Leerstellen und weiße Flecken“ nicht als beklagenswertes Manko, sondern als essenziell gesehen. Das Biografische würde nicht als Gegebenheit aufgefasst werden, da LeserInnen laufend zu Sinnkonstruktionen aufgefordert werden (Borchard, 2003, S. 241). Erben jedoch sucht nach einer „Annäherung an die biographische Wahrheit“ (Erben, 2021, S. 10, 13), wie es eher in konventionellen Biografien geschieht, da hier durch Demontage die „biographische Wahrheit“ aufgedeckt und enthüllt wird (Fetz, 1963, S. 139), während die Montage das Biografische nicht als Gegebenheit auffasst. LeserInnen sind dort laufend zu Sinnkonstruktionen aufgefordert. Das Spannende ist ja, dass der Umgang mit den Quellen zugleich umfangreich und lückenhaft sein kann. Dies bietet wiederum Potenzial, um Fragen zu stellen.

„Es ist notwendig, die Ergebnisse der Auswertung immer wieder zu hinterfragen und neu zu deuten. Was wird überliefert? Wer überliefert was und warum? Was ist überlieferbar? Was wird aus welchen Gründen verdrängt? […] Wie sieht die eigene Rolle im Forschungsprozeß aus?“ (Borchard 2003, S. 230)

Erben konstatiert weiterhin, dass für ihre Methode das hermeneutisch-exegetische Vorgehen notwendig sei (Erben, 2021, S. 26). Man hätte sich gewünscht, dass Erben hier mehr Einblick gibt. Ein Blick auf Loebensteins Intentionen und Motivation hätte in diesem Sinne hermeneutisch offengelegt und rekonstruiert werden müssen. So ist diese Arbeit einem idiografischen Ansatz zuzuordnen und auf einem rekonstruierenden Verfahren beruhend, da Erben sich auf ein Subjekt, den Einzelfall und seine Sinnrekonstruktionen bezieht (hierzu Kruse-Weber, 2020). Erben möchte ein Bild der Persönlichkeit Loebensteins vermitteln, „das ein Stück weit den Menschen Frieda Loebenstein lebendig werden lässt. Nur auf diesem Weg erscheint mir ein tiefes Verständnis ihres Wirkens möglich und sinnvoll“ (Erben, 2021, S. 13). Dieser Ansatz ist zunächst gut nachvollziehbar. Jedoch sucht man vergeblich nach Fragestellungen wie etwa: Was wird gesagt? Was wird nicht gesagt und was bleibt im Dunkeln? Wie dachte Loebenstein über den Nationalsozialismus und das Grauen ihrer Zeit? Wurden diese Quellen ausgespart? Existieren diese Quellen nicht? Vermisst werden Reflexionen des eigenen Vorwissens, der eigenen Standortgebundenheit (siehe oben die Kriterien nach Füßmann, 1994) und der Entscheidungen für Zuschreibungen und Interpretationen, die Erben subjektiv an den Gegenstand heranträgt. So ist anzumerken, dass keine wirklich reflektierte Biografik umgesetzt wird. Dies spiegelt sich außerdem in einem normativen Grundton sowie normativen Setzungen in der Arbeit wider. Als exemplarisch kann die auffallende Würdigung des Praxisbezugs in der Musikpädagogik gesehen werden:

„Denn sie [die Hauptschriften Loebensteins] sind es, die in erster Linie Auskunft geben über ihre musikpädagogischen Ansichten und Überzeugungen. Sie erweisen sich auch deshalb als so überaus wertvoll, weil sie allesamt aus der praktischen Unterrichtserfahrung heraus entstanden sind“ (Erben 2021, S. 15).

In Kapitel 4, wo die Hauptschriften der Protagonistin einer eingehenden Betrachtung unterzogen werden, fehlen Hinterfragungen der eigenen Behauptungen: Sichtweisen, d. h. wie etwas gesehen wird, wie es war, warum etwas so oder so gesehen wurde, werden nicht differenziert, sondern vermischt. Wenn Kurt Schubert (1932) die Entwicklung in den Anschauungen zur Klavierpädagogik beschreibt, folgert Erben: „Das Neuartige an Frieda Loebensteins Publikation ist also […]“ (Erben 2021, S. 242, Hervorhebung SKW) Eine Rezension oder Brief ist ein Selbstentwurf und ist weniger Zeugnis dafür, wie es war, als vielmehr, wie es gesehen wurde (Borchard 2003, S. 136). Spannend wäre es gewesen, auch Deutungsalternativen zu diskutieren.

4. Zusammenfassende Bewertung

Die wissenschaftlichen Ergebnisse zum musikpädagogischen Denken und Handeln Loebensteins fasst Erben am Ende in fünf Leitlinien zusammen. Die erste Leitlinie besagt, dass Loebensteins Verständnis von Musik als „Mittel der inneren menschlichen Bildung“ von einem „Bemühen, Musik ganzheitlich erleben zu lassen und nicht rein verstandesmäßig zu vermitteln“ (Erben, 2021, S. 316), durchdrungen ist. Die zweite Leitlinie bezieht sich darauf, dass „[s]ämtliche Schriften Loebensteins […] aus der Praxis für die Praxis entstanden“ sind (Erben, 2021, S. 31). Diese Attribuierung zieht sich wie ein roter Faden durch Erbens Arbeit, ohne dass wir genauer erfahren, wie dieser Prozess vollzogen wurde. Anbei ein paar Beispiele: „Alle ihre Erkenntnisse zog Schwester Paula aus der Praxis“ (Erben, 2021, S. 136); „In diesem Sinne hat Frieda Loebenstein auch mit ihren Publikationen, in denen sie ihre aus der Praxis gewonnenen Erkenntnisse einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machte, die musikpädagogische Forschung wesentlich bereichert und lebendig werden lassen“ (Erben, 2021, S. 6); oder: „Die hohe Qualität dieser Werke rührt nicht zuletzt daher, dass sie ausnahmslos aus der Praxis heraus entstanden sind“ (Erben, 2021, S. 19). Zu fragen ist, auf welcher Basis Erben ihre Über-zeugungen positioniert und wie der Blick in verschiedene Richtungen gerichtet ist.

Die dritte Leitlinie bezieht sich auf die Tonika-Do-Methode als Grundlage einer musikalischen Gesamtausbildung. Hier hätte man erwartet, dass die Zusammenhänge zwischen der musikalischen Energetik von Ernst Kurth (1931) und Loebensteins musikästhetischer Auffassung klarer herausgearbeitet würden. Es wird im Wesentlichen auf Loebenstein selbst Bezug genommen, sodass sich das Fazit quasi im Kreise dreht. Zu wünschen wäre gewesen, dass auch hier Bezüge zu den KlavierpädagogInnen des Zeitraums gesucht worden wären, deren instrumentaldidaktische Konzeptionen ebenso auf der Tonika-Do-Lehre und/oder der musikalischen Energetik beruhen.

Die vierte Leitlinie bezieht sich darauf, im „Erlebnis- und Arbeitsunterricht“ die Selbsttätigkeit der Lernenden je nach Entwicklungsstand im Unterricht zu fördern. Aufgabe der Lehrperson sei es, das schöpferische Potenzial so zu wecken, dass sich die Lernenden am Instrument musikalisch ausdrücken können (Erben, 2021, S. 317). In der letzten Leitlinie wird auf den Gemeinschaftsunterricht Bezug genommen, den Loebenstein wegen seiner vielseitigen Interaktions- und Musiziergelegenheiten als ideal ansieht, um das sogenannte Arbeitsprinzip der Reformpädagogik umzusetzen (Erben, 2021, S. 317).

So bringt Erben mit diesen Leitlinien nicht direkt neue Erkenntnisse gegenüber der bereits vorhandenen Forschung, sondern sie beruhen im Wesentlichen auf Material, das bereits anderswo oder bei Loebenstein selbst publiziert wurde. Diese Erkenntnisse verbleiben somit im Reproduktiven und die eigentliche Fragestellung der Arbeit, welche „Impulse Frieda Loebenstein für die Musikpädagogik ihrer Zeit“ (Erben, 2021, 13) gegeben hat, wird am Ende zwar wieder aufgegriffen, aber nicht wirklich beantwortet.

Das weit verstreute Quellenmaterial spiegelt sich in dem opulenten Literaturverzeichnis (S. 319–346), welches darauf deutet, welch umfassendes Literaturstudium dieser Arbeit zugrunde liegt. So ist auch der Verdienst von Erbens Arbeit, durch „detektivische Recherche“ (Erben, 2021, S. 10) in Archiven und Antiquariaten bisher unbekanntes Quellenmaterial wie oben erwähnt ans Licht zu bringen. Aus Begegnungen und Interviews mit Menschen, die in Verbindung zu Loebenstein standen, konnte Erben in dieser Arbeit ein religiöses Menschenbild von Loebenstein und eine begeisternde Lehrendenpersönlichkeit lebendig werden lassen. Zu ergänzen ist, dass die Dissertation insgesamt gut zu lesen ist und man beim Lesen vom Lebensweg Loebensteins sehr in den Bann gezogen wird.

Es ist der Instrumental- und Gesangspädagogik als junger wissenschaftlicher Disziplin zu wünschen, dass sie sich weiter mit historischen instrumental- und gesangsdidaktischen Ansätzen auseinandersetzt, um die Geschichte unseres Fachs in ihren Brüchen und Kontinuitäten und auch die gegenwärtige Instrumental- und Gesangsdidaktik besser zu verstehen.

Literaturverzeichnis
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Brade, A. C. (1999). Frieda Loebenstein. In W. Rathert & D. Schenk (Hg.), Pianisten in Berlin. Klavierspiel und Klavierausbildung seit dem 19. Jahrhundert (S. 82–83). Berlin: Hochschule der Künste, Presse- und Informationsstelle (= HdKArchiv; Bd. 3).
Erben, E. (2021). „Den Himmel berühren“. Die Musikpädagogin Frieda Loebenstein (1888-1968), Forum Musikpädagogik, Augsburger Schriften (hg. von Rudolf-Dieter Kraemer), Band 152. Augsburg: Wißner.
Fetz, B. (2009). Zur Bedeutung der Quellen. In C. Klein (Hg.), Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien (S. 433–438). Stuttgart: J. B. Metzler.
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Prof. Dr. Silke Kruse-Weber
Kunstuniversität Graz
Leonhardstr. 82
8010 Graz
Österreich
E-Mail: silke.kruse-weber@kug.ac.at
https://www.kruse-weber.com/
Forschungsschwerpunkte: (Historische) Klavierpädagogik, Entwicklung der Instrumental- und Gesangspädagogik als Wissenschaftsdisziplin, Reflective Practice im Musik(hoch)schul-kontext, Wissenstransfer zwischen Theorie und Praxis