Kneihs, Hans Maria

Der Makel der zweiten Geburt

Oder: Der Fluch der achten Fee. Die wechselvolle Geschichte der Blockflöte

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 5/2012 , Seite 25

“Und Sie unterrichten…?” – Die Augenbraue hebt sich, der Mund­winkel senkt sich: “Oh. Habe ich auch einmal gespielt.” (Die Mundwinkel gehen leicht nach oben.)Was ist los mit diesem Ding, das die Allgemein­heit beharrlich als “Kinderinstru­ment” abtut? Diesem Instrument, das, klassenweise missbraucht, gerade einmal zum Notenlernen oder allenfalls zum Liedchenspielen zu taugen scheint? Das belächelt, verachtet, geschmäht (und manchmal gehasst) wird?

Klar, auch am Klavier bringen es manche nur zum Flohwalzer; aber jeder weiß, dass man weiterüben und ein Meister wie Brendel oder Keith Jarrett werden kann. Warum will niemand der Blockflöte diese Perspektive zugestehen?

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Beginnen wir beim Blättern im Buch der Geschichte weiter hinten. Blättern im Buch der Geschichte? In einem Seminar – es geht um das Werk Fragmente von Makoto Shinohara – stelle ich die Frage: „Welche Erinnerungen verbindet ihr mit dem Jahr 1968?“ Verlegenes Gekicher. „Ich weiß, ihr seid erst lang nachher geboren, aber es gibt doch so ­etwas wie den Strom der kollektiven Erinnerung!“ Nachdenken. Schließ­lich sagt eine Studentin: „Aufruhr.“
Aufruhr. Was für ein Wort! Welche Bilder? Der Pöbel rottet sich zusammen, Häuser brennen, die Obrigkeit wird verjagt…? – 1968, 1938, 1918, 1848, 1648, Hitler und Hannibal, sie liegen für diese Generation alle im gleichen Kapitel: der Vergangenheit.
Ich erinnere an das Jahr, in dem Martin Luther King ermordet wurde, der Prager Frühling von einmarschierenden Truppen beendet wurde; an den Vietnam-Krieg und die Proteste dagegen; vor allem aber erinnere ich an die Studentenrevolte gegen ein erstarrtes Universitätssystem, gegen autoritär geführte Schulen, gegen ein ersticktes und erstickendes Moralsystem. Ich rede von Streiks, Demonstrationen und von Polizeigewalt; von hetzerischer Presse und verängstigten Bürgern. Mitten drin ein Komponist aus Japan, der vom Allzeit-Superstar der Blockflöte, Frans Brüggen, gebeten wird, ein virtuoses Solostück zu schreiben.
Ein Stück, wenn rundherum alles in (vielleicht passt das Wort jetzt sogar) Aufruhr ist? Es können nur Fragmente eines Stücks sein. Virtuosität? Kann nur scheitern. Was hörbar wird, sind Bruchstücke einer in Brüche gehenden Welt: Aufbegehren, zerstörte Virtuosität, stumpfsinniges Marschieren, Angst… Meine Seminarteilnehmerinnen lauschen wie verzaubert. Märchenstunde.
Ist ja vielleicht alles Quatsch, was ich da erzähle. Shinoharas Fragmente aus dem Jahr 1968 sind sicher keine Programmmusik; und vielleicht war er ja auch nicht in Berlin, sondern irgendwo idyllisch auf dem Land, als er sie geschrieben hat; und den Zerfall der Form und alle anderen Elemente kann man auch innermusikalisch (aber was heißt das schon) erklären. Aber: Für einen Augenblick wird aus meinen Geschichten Geschichte, die berührt und Zusammenhänge herstellt.

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Die erste Konzeption verlief ohne Fehl und Tadel. Irgendeiner hat entdeckt, dass man auf einem hohlen Knochen gut blasen kann, wenn man ihn an der Seite anschneidet und einen Pfropfen so in das Ende steckt, dass die Luft durch einen Spalt auf die geschnitzte Kante gelenkt wird. Die Idee war fruchtbar: Nach Jahrtausenden wird daraus das Instrument, das vom europäischen Mittelalter bis zum Frühbarock die Flöte schlechthin war.
In der Renaissance in allen Stimmlagen zum stolzen Consort vereint, steht dem „Flauto“ die ganze Welt der polyfonen Musik offen und dazu manch hübsches Tanzsätzchen. Und er gehört zu den virtuosest gespielten Instrumenten, wie seine Rolle in der Praxis des kunstvollen Verzierens beweist. Als Allzweck-Instrument ist die „Flûte“ gegen die Newcomerin Violine chancenlos, aber wo ­immer im 17. Jahrhundert von Liebe, Natur, Schlaf und Tod die Rede ist, ist sie unverzichtbar. Als in einer Theateraufführung ein Engel zur Musik von Blockflöten herabschwebt, wird der große Liebhaber und Tagebuchschreiber Samuel Pepys so ergriffen, dass ihm fast die Sinne schwinden, wie damals, als er in seine Frau verliebt war. Und natürlich: keine Hirtenszene ohne Blockflöte. Und wer, wenn nicht sie, sollte in den Opern Händels und seiner Zeitgenossen den Vogel­gesang darstellen? Manchmal in den Händen von Profis, oft gespielt als Zweitinstrument und sehr oft geliebt als Amateurinstrument erlebt die Flöte, die ihren Block im Kopf, aber immer noch nicht im Namen trägt, noch einmal eine Blüte am Anfang des 18. Jahrhunderts. Erst jetzt muss man sie von der aufkommenden quer gespielten Flöte unterscheiden, aber man nennt sie die „süße Flöte“ – wie heute noch in Italien – oder „die mit dem Schnabel“ – wie heute noch in Frankreich. Hatte schon Hamlet den auf ihn angesetzten Güldenstern verhöhnt, dass er nicht einmal eine Blockflöte spielen könne (aber ihn, Hamlet, manipulieren wolle!), so kam um 1700 kein englischer Gentleman am „Recorder“ vorbei. Kammermusik, Sololiteratur, Konzerte. Dann, im zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts, ist es auf einmal vorbei. Der neue musikalische Geschmack verlangt nach Galanterie auch im Laut-Leise, und da muss die süße Flöte der Flûte traversière weichen. Es ist aus. Dornröschen schläft.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 5/2012.