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Huber, Harald

Der Song

Anmerkungen zur Geschichte, Wirkungsweise und Didaktik der erfolgreichsten Gattung der Musik

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 2/2018 , Seite 06

Was ist eigentlich ein Song? Wieso gelingt es Songs in besonderer Weise, Emotionen zu erwecken? Und was bedeutet das für den Instrumental­unterricht? Harald Huber zu Historie, Systematik und Pädagogik einer weltumspannenden musikalischen Form.

Anfrage des Mitherausgebers von üben & mu­sizieren Reinhart von Gutzeit an den Autor: „Das Heft 2/2018 wird dem Thema ,Songs‘ gewidmet sein. Inhaltlich soll es etwa um folgende Fragen gehen:
– Prägung durch Songs
– Songs als Motivation fürs Instrumentalspiel
– zur Rolle des Singer-Songwriters
– Songs in der Klassik
– Lieder ohne Worte
– Songs für Kinder.“
Antwort des Autors Harald Huber: „Mein The­ma ist die kulturelle Diversität. Formen des Liedes kommen in allen Stilfeldern der Musik vor, sind ein Basisrepertoire aller Musikkulturen. In der englischen Bezeichnung ,Song‘ schwingt die reale Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts mit, die dem angloamerikanischen Popular Song weltweite Verbreitung und Geltung beschert hat. Darauf nahmen ja auch schon Weill und Eisler Bezug. Der Jazz pflegt heute ein ambivalentes Verhältnis zum Songformat, Rock/Pop und auch HipHop geben nunmehr weltweit den Rahmen vor, in dem man sich poetisch-musikalisch ausdrückt – in Verbindung mit jeweils regionalen Sprach- und Musiktraditionen. Auch im deutschsprachigen Schlager spricht man mittlerweile von ,Hit-Songs‘ etc.
Kinder und Jugendliche wachsen heute mit der audiovisuellen Form des Songs auf (Clips auf YouTube u. a.). Trotz der Überfülle des An­gebots gibt es immer noch Welthits, die in der Kommunikation der Heranwachsenden international eine bedeutende Rolle spielen. Der Begriff ,Prägung‘ ist nur bedingt geeignet für die Prozesse, die sich abspielen. Es gibt auch kreative Freiräume rund um die Schemata des Songformats. Die Improvisa­tions- und Kompo­sitionspädagogik an Musikschulen sollte den Song als wesentliche Ausdrucksform integ­rieren, dabei aber den Blick auf die Diversität der Musik insgesamt nicht preisgeben.“
Antwort von Reinhart von Gutzeit: „Sie setzen da ja schon zu einem Definitionsversuch des schwer definierbaren Begriffs an – das weiter auszuführen würde uns sehr gut tun! ,Prägung‘ war wohl weit gedacht – von unserer Prägung durch Songs unserer Jugend, die das Lebensgefühl fokussiert haben (bei mir waren das die Beatles, A Whiter Shade of Pale und dann jede Menge Liedermacher-Songs), bis zur Bedeutung dieser Songs für die ­Aus­bildung des Musikgeschmacks. Aber Sie ­dür­fen den Begriff gerne auch komplett beiseite schieben!“
Aha! „Prägung“ also nicht bezogen auf weltweit erfolgreiche Schemata des Popular Songs, sondern bezogen auf musikalische Erfahrungen von Generationen während ihrer Jugendzeit! Ich bleibe gleich bei diesem Missverständnis: Ich dachte zunächst, es soll um die Prägung von Hörgewohnheiten gehen, die durch formale Regeln des Songwriting entstehen. Also dass nach einem Intro eine erste Strophe (Verse 1) kommt, danach eine Vorbereitung des Refrains (Prechorus) und dann der Refrain (Chorus), der die Titelzeile des Songs enthält; nach einem kurzen Interlude die ganz Sache nochmals (Verse 2, Prechorus, Chorus) und dann als Kontrast eine Bridge mit neuem Material, schlussendlich der Chorus in Schleife bis zu einem definitiven Ending oder einem Fade out. Die angloamerikanischen Lehrbücher zum Songwriting sind voll von solchen Rezepten und werden auch weltweit beachtet. Und ich meine, die Improvisations- und Kompositionspädagogik an Musikschulen sollte diese Schemata zwar beachten, aber die Regeln auch brechen und der bunten Vielfalt des Songformats Tür und Tor öffnen.

Was ist ein Song?

Ein Song ist ein Lied: ein Kunstlied, ein Chanson, eine Jazz-Ballade, ein Volkslied, ein Rap, ein Rock- bzw. Popsong, ein Schlager, eine Canzone, eine Arie, ein Sarki (türkisch), ein Aghnia (arabisch), ein Pesnya (russisch), ein Geet (indisch), ein Gequ (chinesisch), ein Lagu (malaysisch), ein Wimbo (suahelisch), ein Cancao (brasilianisch) etc.1 – um von der angloamerikanischen Hegemonie in diesem Bereich auch gleich einmal wegzukommen. Dies ist jedoch nicht so einfach.
Der Begriff geht zurück auf die Musikgeschichte Englands. Die Bezeichnungen „Song“ und „Ayre“ (Air, Aria) wurden im 17. Jahrhundert synonym sowohl für Lieder etwa von John Dowland oder Henry Purcell verwendet, aber auch – etwa in der Beggar’s Opera von John Gay und Johann Christoph Pepusch (1728) – auf sogenannte „street ballads“ angewandt. Das waren populäre Strophenlieder der Zeit, deren Text auf „broad sides“ zwecks gemeinschaftlichen Gesangs für alle sichtbar festgehalten wurde. Sie enthielten oftmals Kritik an Adel und Klerus und jede Menge Spott, Hohn, Parodie und Moral, z. B. The Ballad of Chevy Chase – ein 67-strophiges Schlachtengemälde mit der Botschaft, die edlen Herren mögen ih­re tödlichen Scharmützel künftig unterlassen.
Dies ist für die Gegenwart insofern von Bedeutung, als nicht nur das in Jazz und Pop gebräuchliche „lead sheet“ (Blatt mit Melodie, Text und Akkordkürzeln) darauf zurückgeht, sondern über die Dreigroschenoper von Bertolt Brecht und Kurt Weill, deren Uraufführung 1928 – genau 200 Jahre nach der Vorlage von Gay/Pepusch – stattfand, diese Songtradition auch für die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts bedeutsam wurde. Über Sting, Tom Waits oder Marianne Faithfull, die Weill-Songs interpretiert haben, kann eine direkte Brücke zur Gegenwart geschlagen werden. Die Gattung des Folk-, Rock- und Popsongs insgesamt versteht sich als Fortführung einer auch gesellschaftskritischen Songtradition.

1 Diese Aufzählung unterschlägt die in den jeweiligen Sprachen korrekte Schriftform und Artikelsetzung.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 2/2018.