Doerne, Andreas
Didaktische Reduktion
Ein Plädoyer für die Kunst der Vereinfachung
Didaktische Reduktion bedeutet, ein Musikstück in seiner musikalischen Komplexität oder spieltechnischen Schwierigkeit so weit zu reduzieren, dass es für eine bestimmte Schülerin mit Fähigkeiten, die dem Original (noch) nicht gerecht werden, spielbar wird. Dass dies nicht zwingend einer “Leichtigkeitslüge” Vorschub leisten muss, sondern im Gegenteil als Weg hin zum Verständnis und Erfahren von Komplexität verstanden werden kann, zeigt Andreas Doerne skizzenhaft auf.
Das Prinzip der Didaktischen Reduktion hat keinen leichten Stand. Zwei Glaubenssätze stehen ihr entgegen:
1. In der Einfachheit kann keine Kunst stecken.
2. Die Musizierende ist ehrfürchtige Dienerin schriftlich tradierter musikalischer (Meister-) Werke. Musikalische Kompositionen dürfen entsprechend unter keinen Umständen verändert werden.
Darüber hinaus steht Didaktische Reduktion unter dem Generalverdacht spaßpädagogischer Simplifizierung, die sich einem vermeintlich um sich greifenden Bedürfnis nach anstrengungslosem Konsum von Lerninhalten anbiedert.
Dass im Spiel eines einzigen Tons bereits alles aufscheinen kann, was Musizieren zu einer Kunstform macht, ist jedoch inzwischen, zumindest in der musizierpädagogischen Theorie, zu einem Grundkonsens geworden. Ebenso hat der durch quasi-sakrale Konnotation emphatisch überhöhte Werkbegriff mittlerweile eine gesunde Relativierung erfahren, indem aufgezeigt wurde, dass Musikstücke – auch die größten Meisterwerke – Resultate rational nachvollziehbarer kompositorischer Handwerkskunst sind und ihr inneres Geheimnis – bzw. etwas nüchterner: ihr inhärenter Algorithmus – durch Dekonstruktion und Reduktion sichtbar gemacht werden kann.
Und schließlich ist ein Hang zur Simplifizierung von Musik verbunden mit einem falschen Versprechen von Leichtigkeit in aktuellen, schreierisch bunt aufgemachten und zumeist in irgendeiner Form mit dem Wörtchen „easy“ betitelten Spielheften zwar zu konstatieren und muss auch kritisiert werden, hat allerdings auf den Unterricht qualitätsbewusster Lehrkräfte kaum Einfluss und wird sich aufgrund fehlender Substanz von selbst totlaufen.
Doch ganz gleich, welche berechtigten und unberechtigten Widerstände das Prinzip der Didaktischen Reduktion hervorruft, zumindest in einem Tätigkeitsfeld durchdringt und bereichert es unsere künstlerische Praxis als Musikerin und Musiker täglich aufs Neue. Und das fast unbemerkt.
Üben als autodidaktische Reduktion
Wenn wir üben, tun wir häufig nichts anderes, als Musik didaktisch zu reduzieren: Wir verlangsamen das Tempo eines Stücks, um es an unsere aktuelle spieltechnische Grenze anzupassen, um mit unserer Hör-Aufmerksamkeit unserem Tun hinterherzukommen oder bestimmte Bewegungsabläufe sorgfältig wahrnehmen zu können; wir fassen Akkordbrechungen zu simultan klingenden Akkordgriffen zusammen, um das harmonische Prinzip hinter einer kompliziert erscheinenden Tonkette zu verstehen; wir spielen auf dem Klavier die Hände einzeln; wir machen als Bläser Übungen nur mit dem Mundstück; wir separieren einzelne „Problem-Takte“ und spielen diese in einer Wiederholungsschleife; wir konzentrieren uns bewusst auf einzelne Parameter und blenden andere aus (rotierende Aufmerksamkeit) usw. Dieses Prinzip einer – wenn man so will – Autodidaktischen Reduktion ist eine zentrale Fähigkeit für erfolgreiches Üben. Und es ist zumeist genau jene Fähigkeit, die wir vermissen, wenn wir darüber klagen, dass unsere Schüler nicht richtig üben.
Ebenso bedient sich jede Musikerin beim Vom-Blatt-Spielen des Prinzips der Autodidaktischen Reduktion. Um das Zeitmaß beizubehalten und entsprechend ein geschmeidiges, musikalisch fließendes Spiel zu realisieren, werden Bestandteile des Textes einfach weggelassen. Hier findet Didaktische Reduktion in Echtzeit durch die Spielerin selbst statt. Spielen und Aus-dem-Stegreif-Reduzieren fallen in eins.
Lesen Sie weiter in Ausgabe 6/2012.