Kienzle, Ulrike

„die feinsten Falten und Biegungen der Töne ­drückten sich in seiner weichen Seele ab“

Meditatives Hören bei Heinrich Wackenroder und Ludwig Tieck

Rubrik: Bericht
erschienen in: üben & musizieren 6/2022 , Seite 46

Mit dem Beginn des romantischen Zeitalters verändert sich auch das Hören von Musik. Galt sie vorher als angenehmer Zeitvertreib – man denke an die Kammer- und Tafelmusik in den Fürstenhäusern, an die erquickliche Hausmusik in der Familie, aber auch an das beginnende bürgerliche Konzertleben – oder diente repräsentativen Bedürfnissen in der Oper oder der Beförderung von Andacht in der Kirche, so entdeckten die Romantiker um 1800 die Musik als freie Kunst, die in besonderer Beziehung zur menschlichen Seele steht und in zuvor unbekannte Bewusstseinszustände führt, die wir heute als Trance bezeichnen würden. Ein Schlüsseltext für diese neue Art des Hörens bietet die zitierte Passage aus Heinrich Wackenroders Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders, veröffentlicht 1797 in Berlin gemeinsam mit dem Freund Ludwig Tieck.1
In schwärmerischer Sprache wird hier nichts anderes als eine Revolution des Hörens beschrieben: Die Musik verlangt volle Hingabe und das Ausschalten aller anderen Sinne. Das Hören ist ein Akt der Meditation. Hinter den geschlossenen Augen des Lauschenden entstehen innere Bilder – eine Form der reaktiven Kreativität, denn diese Vorstellungen werden ausgelöst durch die Musik und stehen zu ihr in geheimnisvoller Korrespondenz. Ob es sich um Kirchenmusik oder Instrumentalmusik handelt: Das Ausspannen der Seelenflügel und die Erhebung in transzendente Sphären ist die Beschreibung dessen, was wir heute als meditatives Erleben, als Trance, als Erweiterung des Bewusstseins bezeichnen würden.
Wackenroder und Tieck waren musikalische Laien, doch ihrer Vision des neuen Hörens gehörte die Zukunft. In E. T. A. Hoffmanns berühmter Rezension zu Ludwig van Beethovens Sinfonie Nr. 5 c-Moll op. 67, erschienen in der Allgemeinen Musikalischen Zeitung 1810, werden solche und ähnliche Vorstellungen mit konkreter musikalischer Analyse versehen und musikwissenschaftlich untermauert. Wenn wir heute ins Konzert oder in die Oper gehen, werden wir ganz still und reglos und bewegen uns erst wieder, wenn der Dirigent das Zeichen dazu gibt – ein Ritual, an das wir so sehr gewöhnt sind, dass es uns nicht weiter auffällt. Wackenroder und Tieck dagegen mussten in ihrem Text zu ungewöhnlichen Formulierungen greifen, um das neue Hören überhaupt erst nachvollziehbar zu machen.

1 Wackenroder, Heinrich: „Das merkwürdige musika­lische Leben des Tonkünstlers Joseph Berglinger“, in: Wackenroder, Heinrich/Tieck, Ludwig: Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders (1797), Stuttgart 1983, S. 105-107.

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