Wessel, Michael
Die Kunst des Übens
Wegweiser zu inspiriertem Üben und Interpretieren. Mit zehn Interviews namhafter Interpreten zum Thema
Michael Wessel, Professor für Klavierspiel und Methodik an der Hochschule für Evangelische Kirchenmusik in Bayreuth, hat das Thema Üben in seinem umfangreichen Buch weitläufig und gründlich erörtert. Üben ist für Wessel das Erarbeiten von Werken und somit nicht von Interpretieren zu trennen. Als Schüler von Karl Heinrich Ehrenforth steht der Autor in einer engen Bindung an das Konzept der musikalischen Hermeneutik. Nicht zuletzt durch seine pianistische Ausbildung bei Hanns-Ulrich Kunze, Jürgen Uhde und Elisabeth Leonskaja ist Wessel prädestiniert, bei seinen Darlegungen zum Üben und Interpretieren sorgfältige Lektüre und Reflexion von Notentexten mit der Beachtung aller wichtigen Fragen ihrer musikalischen Umsetzung in einen Zusammenhang zu bringen, Musikalisches und Technisches stets als eine künstlerische Einheit aufzufassen und zu vermitteln.
Die beiden großen Teile, in die sich das Buch gliedert, tragen die ambitionierten, auf Kant verweisenden Titel „Kritik des reinen Übens“ und „Kritik des praktischen Übens“. Die Diktion der Ausführungen ist allerdings keineswegs „kantisch“. Der erste Teil hat durchgehend die Anlage eines Gesprächs zwischen diversen fiktiven und realen Persönlichkeiten. Über weite Strecken räsonnieren A (der „Assistent“) und B (der „Bücherwurm“) in mitunter recht saloppem Ton miteinander, wobei ihr Gespräch bereichert wird durch Eingaben von Personen wie „Siegfried“ (S. Borris), „Peter“ (P. Gülke), „Teddy“ (Th. W. Adorno), „Jürgen“ (J. Uhde) u. a. (ein für mein Empfinden unangenehmes Vertrautheitsspiel). Auf diese Weise kommen die großen Aspekte Motivation, Interpretieren, Auslegen, Darstellen, Hören und Üben zur Sprache.
Der zweite Teil des Buchs ist in Tagebuchform abgefasst. In vier Kapiteln protokollieren der „Assistent“, der „Bücherwurm“, der „Champion“ und der „Didaktiker“ die Erarbeitung von vier repräsentativen Klavierwerken von Bach, Mozart, Chopin und Debussy von der ersten Annäherung an den Notentext bis zur entwickelten Darstellungsfähigkeit. Aus der Erschließung des betreffenden Werks durch die spezifische Herangehensweise des jeweils protokollierenden Übenden erwachsen vielerlei Strategien und Einsichten.
Den Anhang bilden zehn Interviews mit renommierten Interpretinnen und Interpreten über den Fragenkomplex „Wie üben Sie?“, der vorab in einem Fragenkatalog aufgeschlüsselt wird. Ein knappes (recht schludrig gestaltetes) Literaturverzeichnis und ein Stichwortregister beschließen den Band.
Wer mit den gewöhnungsbedürftigen, in ihrer Weitläufigkeit oft ermüdenden Diktionen der beiden Teile zurechtkommt, den beschenkt die Lektüre mit vielen differenzierten Einsichten in eine gründlich erwogene Theorie und eine theoretisch fundierte wie künstlerisch sensible Praxis des Übens von Musikwerken.
Ulrich Mahlert