Schulte im Walde, Christoph

Die Musikschulen sind bereit!

Friedrich-Koh Dolge, Leiter der Stuttgarter Musikschule, über die ungewisse Zukunft des Landesförderprogramms SBS

Rubrik: Gespräch
erschienen in: üben & musizieren 1/2012 , Seite 44

Die pädagogischen Erfolge des baden-württembergischen Landesförderprogramms Singen – Bewegen – Sprechen (SBS) sind enorm, die Erfahrungen seit der 2007 gestarteten Pilotphase durchweg positiv. In Baden-Württemberg hat man offensichtlich ein sinnvolles Konzept zur Förderung nicht nur musikalischer Kompetenzen im Bereich Vor- und Grundschule gefunden. Doch wenn es nach dem Willen der neu gewählten Landesregierung geht, wird SBS Ende Juli 2012 auslaufen, die vorschulische Förderung als Sprachförderprogramm weitergeführt. Friedrich-Koh Dolge, seit September 2002 Leiter der Musikschule Stuttgart, seit Mai 2005 stellvertretender Vorsitzender des Landesverbandes der Musikschulen Baden-Württembergs e. V. und Mitglied im Bundesvorstand des Verbands deutscher Musikschulen, äußert sich zu dem Programm, seinem erfolgreichen Start und seiner ungewissen Zukunft.

Herr Dolge, wie spruchreif ist das Ende von SBS?

Vom Kultusministerium wissen wir definitiv, dass SBS in der Grundschule nicht mehr weitergeführt werden soll. Begründet wird diese Entscheidung mit der Tatsache, dass die alte Landesregierung die notwendigen Mittel für das Programm nicht in die mittelfristige Finanzplanung eingestellt habe; nun fehle das notwendige Geld für die Fortführung von SBS in der Grundschule. Wir halten es aber für enorm wichtig, dass die Arbeit, die im vorschulischen Bereich begonnen worden ist, auch im Grundschulbereich fortgesetzt wird. Ursprünglich war geplant, eine durchgehende musikalische Bildungsbiografie für Kinder im Alter von vier bis zehn Jahren zu organisieren. Das hätte im sechsjährigen Ausbau des Programms rund 25 Millionen Euro pro Jahr gekostet. Zugrunde liegen dieser Berechnung etwa 1 350 Kooperationen mit Kindergärten und Grundschulen, die im Oktober 2010 starteten. Im September 2011 wurde dann in allen Bildungskooperationen eine zweite Fördermaßnahme initiiert, sodass nun in den 1 350 vorschulischen Bildungskooperationen 2 700 Fördermaßnahmen durchgeführt werden. Würde in Zukunft alles nach Plan und in vollem Umfang laufen, hätten wir im Endausbau in den Bildungskooperationen insgesamt rund 11 000 Fördermaßnahmen bzw. SBS-Gruppen: 2 700 im vorschulischen, 8 000 im Grundschulbereich. So würden wir 48 Prozent aller Grundschulen des Landes erreichen. Das war der politische Wille der früheren Landesregierung. Wenn SBS nicht vollständig im Grundschulbereich umgesetzt werden kann, so wäre unsere Forderung, dass wir wenigstens die 1. und 2. Grundschulklasse abdecken können! Dann würde das Programm in abgespeckter Version rund zwölf Millionen Euro kosten. Aber selbst das ist anscheinend momentan zu viel.

Die Pilotphase, mit der SBS im Jahr 2007 in 17 Kindergärten bzw. Kindertagesstätten begonnen hat, wurde vom Land über die Baden-Württemberg-Stiftung finanziert.

Das ist richtig. Und schon damals war schnell festzustellen: SBS hat enorme Auswirkung auf die Einschulungsquote. Wir haben in diesem Herbst, ein Jahr nach dem Start des Landesförderprogramms, nach den ersten Erfahrungen gefragt. Da waren in mehr als 80 Prozent aller Gruppen deutlich überdurchschnittliche Fortschritte bei der Sprachfähigkeit, beim Sozialverhalten, hinsichtlich der motorischen Entwicklung und der Entwicklung der Selbstkompetenz zu erkennen. Das sind großartige Erfolge, nicht zuletzt deshalb, weil wir SBS in ganz, ganz enger Anlehnung an den Bildungsplan entwickelt und konzipiert haben. Wenn Sie sich die Forderung der neuen Landesregierung ansehen, die dieselbe ist wie die der alten, dass nämlich mehr Ganztagsschulen aus pädagogischen Grün den eingerichtet werden sollen, hätten wir mit SBS ein Modell, das am Orientierungsplan Kindergarten und an den Bildungsstandards Grundschulen im Fach „Mensch – Natur – Kultur“ angelehnt ist – also eine ideale Kombination zwischen vorschulischer, grundschulischer und musikalischer Bildung. Stand der Dinge im Augenblick ist: SBS im vorschulischen Bereich soll in die Sprachförderung integriert werden. Von der Grundschule ist überhaupt keine Rede mehr – im Augenblick zumindest.

Also würde die musische Bildung zukünftig einfach zu Beginn der Grundschulzeit abbrechen?

So ist es – zumindest in der bislang vorgesehenen Form. Dabei hätten wir jetzt eine Struktur gehabt, vor allem eine inhaltliche Struktur mit klaren Zielsetzungen. Die Musikschulen haben viel in die Entwicklung von Konzepten investiert. Es ist nicht so, als sei das Programm 2010 aus heiterem Himmel gefallen. In der Entwicklungsphase sind ganz viele Köpfe dabei gewesen, die mitgemacht haben – denken Sie allein an die 17 Pilotkooperationen. Da haben ja die Musikschulen vor Ort mitgewirkt und einen entscheidenden Input mit in die konzeptionelle Entwicklung des Programms hineingegeben. Übrigens verstehen wir uns ja auch als Partner der Laienmusikverbände, als Dienstleister für das spätere Musizieren in den verschiedenen Formen des Laienmusizierens. Das ist nichts Neues, das steht ja schon in unserer Präambel. Vor allem im Bereich der Kooperation in den Grundschulen wären dank SBS beispielsweise die Blasmusikvereine vor Ort sehr gefragt gewesen. Wir hätten also auch maßgeblich deren Vereins arbeit damit unterstützen können.

Wie sehen Sie die Rolle der Musikschulen nach dem Ende von SBS?

Wir führen ja immer wieder viele Gespräche mit der Basis, mit den Kindergärten, Grundschulen, den allgemein bildenden Schulen. Speziell für die Stuttgarter Musikschule muss ich feststellen: Wir können uns, was den Wunsch nach Kooperationen betrifft, nicht mehr vor Anfragen retten. Die sind gar nicht mehr in dieser Menge zu erfüllen. Und da glaube ich, ist das Land gefordert, Strukturen zu schaffen, auch Finanzierungsstrukturen, um dieser Aufgabe nachzukommen. Denn die Bildungshoheit liegt nun mal beim Land und nicht bei der Kommune. Ich glaube, dass man an der Basis schon viel weiter ist. Zudem sind viele Fragen ungelöst wie etwa diese: Wann kann ein Kind, wenn es eine gebundene Ganztagsschule besucht, die allgemein bildende Schule verlassen, um den Instrumentaloder Vokalunterricht zu besuchen – und ich meine das unabhängig davon, ob der von einer öffentlichen Musikschule oder z. B. von einem Mitglied des DTKV erteilt wird. Im Übrigen haben wir Kontakte zum örtlichen DTKV, der ausdrücklich begrüßt, dass die öffentlichen Musikschulen in diese Vorleistung der Bildungs kooperation hineingeht. Damit sichern wir im Prinzip ja auch den musikalischen Nachwuchs ab. Wir handeln also wirklich im Sinne des öffentlichen Auftrags. Und diese Auftragserfüllung benötigt dringend eine Struktur, die auch seitens der Politik gegeben werden muss. Inhaltlich sind wir soweit, dass die Konzeption steht. Die Musikschulen sind bereit!

Bildungsauftrag kann auch heißen, Anstrengungen zu unternehmen für eine verbesserte Integration…

Das ist ein ganz wichtiger Faktor: SBS als Bildungsangebot in Bezug auf die Integration von Kindern mit Migrationshintergrund. Denn von den 38 000 Kindern, die wir im zweiten Jahr des Landesförderprogramms mit dem Programm erreichen konnten (im vorgesehenen Endausbau wären es mehr als 160 000), haben ca. 43 Prozent einen Migrationshintergrund. Hier in Stuttgart gibt es, wie in allen anderen Städten auch, soziale Brennpunkte und in den Schulen manchmal Klassen, die sich zu hundert Prozent aus Kindern mit Migrationshintergrund zusammensetzen; Kinder, die oftmals bislang nie in den Genuss musikalischer Bildung gekommen sind, die dazu keine Chance bekommen haben. SBS hat für mich deshalb auch viel mit Bildungsgerechtigkeit zu tun. Wir sprechen viel zu wenig von musikalischer Bildungsgerechtigkeit! Aber genau diese ist ein wichtiger Aspekt bei SBS. Außerdem bringt SBS auch den Pädagoginnen und Pädagogen eine Menge an Erfahrungen. SBS läuft ja im Vorschulbereich im Tandemsystem. Da wird die musikalisch-pädagogische Kompetenz unserer Musiklehrerinnen und -lehrer sehr geschätzt. Diese wiederum sind dankbar für das entwicklungspsychologische Knowhow der Erzieherinnen… Da ergeben sich also ideale Ergänzungen. Und das ist für mich durchaus auch eine neue Form der Bildung, um Kinder bestmöglichst in ihrer Entwicklung zu unterstützen. Die Musik ist offenkundig ein Medium, das bei den Kindern das Sprachzentrum öffnet und die Lernbereitschaft fördert. Im gleichen Atemzug sei aber auch gesagt, dass die Musikschule auch die Spitzenförderung nicht aus den Augen verlieren darf. Wie schaffen wir es, die Breitenförderung, die ja in den letzten Jahren noch breiter geworden ist, mit der Spitzenförderung zu verbinden und die einzelnen Arbeitsfelder innerhalb der öffentlichen Musikschule zu vernetzen? Das ist eine Frage, die wir uns in Zukunft noch viel, viel stärker stellen müssen: Tue das eine, ohne das andere zu lassen!

Wie geht es weiter?

Auf der Ebene des Gesprächs müssen wir die Politik überzeugen, dass die Fortsetzung von SBS wichtig ist! Sicher sehen wir die finanziellen Nöte der Landesregierung, weshalb wir von uns aus einen Vorschlag gemacht haben, wie man mit weniger Mitteln auskommen könnte und dennoch ein gewisses Maß an Zielen erreicht.