Isherwood, Nicholas

Die Techniken des Gesangs

mit CD

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Bärenreiter, Kassel 2013
erschienen in: üben & musizieren 2/2014 , Seite 50

Wer hätte gedacht, dass man bei dem Terminus „historische Aufführungspraxis“ genau genommen auch schon an die 50er/ 60er Jahre des 20. Jahrhunderts denken sollte? Dass man sich um die Beschaffenheit von Mik­rofonen ähnliche Gedanken machen sollte wie um die Beherrschung des Barockbogens einer Geige? Dass ein Sänger, der sich speziell mit Neuer Musik befassen möchte, gut daran tut, die Grundsätze des Schlaginstrumentenspiels zu erlernen?!
Nicholas Isherwood vermittelt anschaulich und höchst kompetent die Zugänge zu Neuer Musik; der versierte Sänger und Pädagoge durchdenkt systematisch fundiert die Aspekte der Gesangstechnik, die im Fokus der Gegenwartsliteratur stehen, und stupst den geneigten Leser scheinbar so nebenbei zu einem ganzen Feld musikästhetischer Kernüberlegungen an.
Die Techniken des Gesangs beziehen alle denkbaren Laut­äußerungen stimmlicher Art ein. Isher­wood gibt in seinem sehr klar gegliederten Lehrwerk einen mit größtem Selbstverständnis aus dem Vollen der entsprechenden Literatur schöpfenden Überblick etwa über Vokaltechniken (Kap. 5), Vibrato (Kap. 6), Improvisationsmöglichkeiten (Kap. 12) und setzt sich dann exemplarisch mit Luciano Berios legendärer Sequenza III (Kap. 13) auseinander. Die einzelnen Kapitel stellt er überaus anschaulich und mit einer Fülle an Literaturverweisen dar, die nicht zuletzt durch die sehr prägnanten Beispiele auf der beigefügten CD den versierten Umgang des Autors mit der Materie in ein Urvertrauen in ihn als pädagogische Instanz umzuwandeln helfen.
Allerdings muss man schon wissen, was man mit seiner Stimme macht, um Techniken wie beispielsweise „Diphones Singen“ (Kap. 5.2) umsetzen zu können. So nimmt Isherwood auch bereits in seiner Einleitung klar Bezug zu seiner Grundlage: „[Dieses Buch] versucht vielmehr zu zeigen, wie man, auf der Grundlage der Belcanto-Technik aufbauend, die Musik der Gegenwart bewältigen kann – ganz ähnlich, wie zeitgenössische Tän­zer über die Technik des klassischen Balletts hinausgehen, um ihre Kunst zu lernen.“
Dieses Buch ist daher nicht zum Selbststudium für StimmanfängerInnen geeignet, es richtet sich vielmehr an ausgebildete SängerInnen, die sich gezielt mit Gegenwartsliteratur auseinandersetzen wollen. GesangspädagogInnen werden hier eine Fülle wertvollster Anregungen und Literaturbeispiele finden, die sie mit ihren fortgeschrittenen Schü­lerInnen erarbeiten und sich so auch gleich in das begeisternde Feld der Musikästhetik begeben können. Kompositionsstudierende, junge KomponistInnen und InstrumentalistInnen mit Schwer­punkt Gegenwartsliteratur können hier von den Erfahrungen des versierten Interpreten und Mitschöpfers profitieren und Anregungen für ihr Wirken erhalten. Kurz: Ein neues Standardwerk, das die einschlägigen Spezialisten und die, die es zu werden hoffen, gelesen haben sollten.
Christina Humenberger