Rittner, Hardy

Die vergessene Cantilene

Frédéric Chopins missverstandene Virtuosität. Grundlagen der Aufführungspraxis

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Bärenreiter, Kassel 2022
erschienen in: üben & musizieren 2/2023 , Seite 58

„Cantilene“ und „Virtuosität“ – schließen diese beiden Reizwörter des Titels einander nicht aus? Keineswegs. Hardy Rittner zeigt, dass Chopin nicht nur in seinen offenkundig melodisch geprägten Werken pianistisch die Kunst des Belcanto adaptierte, sondern dass er auch für die Passagen, Läufe, Figuren seiner virtuosen Kompositionen stets eine gesangliche Ausführung im Sinn hatte. Die von vielen zeitgenössischen Stimmen beschriebene Faszination seines Klavierspiels beruhte auf dem Primat des Gesangs. „Chopin wollte das ganze Passagenwerk zu einem cantabile-Styl gezwungen wissen.“ So brachte der Chopin-Schüler Wilhelm von Lenz Chopins Intentionen auf den Punkt.
Mit großem Kenntnisreichtum zeitgenössischer und späterer Quellen (Berichte von Schülern, Beschreibungen von Chopins Darbietungen, instruktive Werkausgaben aus dem Umkreis von Chopin u. a.) erhellt Hardy Rittner die Prinzipien des am Belcanto ausgerichteten Chopin-Spiels. Besonders die erst 2018 veröffentlichten Briefe der Chopin-Schülerin Friederike Müller und die von Aline Tasset überlieferten Ausführungen des ebenfalls von Chopin unterrichteten Pianisten Joseph Schiffmacher erweisen sich als enorm aufschlussreiche Quellen. Da Chopins Notierungsweise verschiedenartig ist und oft nicht explizit seine Intentionen vermittelt, muss mithilfe solcher Quellen das höchstwahrscheinlich Gemeinte herausgearbeitet werden.
Rittner tut dies mit großer Sorgfalt und viel Scharfsinn. Indem er bei der Analyse von Werkausschnitten die vorhandenen Indizien benennt und interpretiert, kommt er immer wieder zu überzeugenden Ergebnissen, bei deren Realisierung die vertrauten, meist auf vordergründige Virtuosität getrimmten Werke Chopins einen unerhörten cantablen Reichtum entfalten. Als wichtigste Mittel für eine Chopins Intentionen entsprechende Interpretation seiner Werke erörtert Rittner: Überlegato, melodische Hervorhebungen, gebundenes Rubato, die Wahrnehmung und Realisierung interner Polyfonie in einstimmigen Linien, das heutiger Praxis widersprechende Crescendieren bei absteigenden und das Diminuieren bei aufsteigenden Linien, das Führen von Unterstimmen in Oktaven und Akkordfortschreitungen, die häu­fige Priorisierung von Mittel- und Unterstimmen gegenüber der Oberstimme, Hervorhebung von melodischen Gerüstnoten in schnellen Passagen durch Dehnung und Dynamik, gekoppelt mit dem beiläufigen, Gruppen zusammenfassenden Spiel der übrigen Passagentöne, was zu „zart begleitender Brillanz statt vordergründiger Bravour“ führt.
Hardy Rittners Buch stellt die Chopin-Interpretation auf eine neue, fundierte Basis. Beispiele der bisher üblichen und der Chopins Prinzipien folgenden Spielweise mit dem Autor am Flügel sind online als Videomaterial verfügbar: www.baerenreiter.com/en/shop/product/details/BVK4005
Ulrich Mahlert