Berg, Ivo Ignaz
„Don’t sing – first listen!“
Über die Bedeutung des Imitierens in der Meisterlehre: ein Erfahrungsbericht mit mittelalterlicher Musik
Für eine moderne Instrumental- und Gesangspädagogik stellt der Begriff der Meisterlehre ein Reizwort dar. Dazu müssen nicht einmal die Auswüchse eines autoritären und selbstherrlichen Meisterklassenunterrichts heraufbeschworen werden.1 Allein die Form eines eindeutig lehrerzentrierten und auf Nachahmung angelegten Unterrichts scheint heute nicht mehr zeitgemäß. Doch neben dieser negativen Assoziation könnte man auch an ein weiteres Bild erinnern: an dasjenige von leidenschaftlich für die Sache der Musik streitenden Pädagogen, von Meistern ihres Instruments und ihrer Stimme, die mit Charisma und Feuer ungeahnte Dimensionen des Erlebens von Musik zu eröffnen vermögen.
Worin könnte die pädagogische Qualität der Meisterlehre bestehen? Sind es allein momentane Wirkungen, die mit ihr erzielt werden, oder kann dabei auch ein nachhaltiges Lernen stattfinden? Und geht es dabei nicht einfach um das blinde Kopieren eines unhinterfragten Vorbilds? Mit Recht könnte man also auch hier einige Zweifel anmelden.
Vor diesem Hintergrund möchte ich über einige Erfahrungen nachdenken, die ich selbst während meines Aufbaustudiums in den Niederlanden machen konnte. Gegenstand des Studiums war die Vokal- und Ensemblemusik des Mittelalters von ihren Anfängen bis an die Schwelle des 16. Jahrhunderts. Rein äußerlich könnte man den Charakter dieses Studiums als eine „historisch informierte Aufführungspraxis“ beschreiben – im Inneren jedoch handelte es sich um eine Meisterlehre, die ganz eindeutig im Zeichen der Leiterin und Initiatorin Rebecca Stewart stand. Interessanterweise war dies aber nicht allein eine Folge des oben beschriebenen zweiten Bildes – auf das die Musizier- und Lehrweise Rebecca Stewarts in vollem Maße zutrifft. Zu einem wesentlichen Teil war dies auch eine bewusste pädagogische Entscheidung, die sowohl mit dem persönlichen Werdegang der Dozentin als auch mit dem Gegenstand, also der historisch gesehen denkbar abgelegenen Musik des Mittelalters zusammenhing.
Außereuropäische Traditionen als Brücke in die Vergangenheit
In den USA geboren, durchlief Rebecca Stewart zunächst den gewöhnlichen Ausbildungsweg als Sängerin. Zunehmend auftretende Schwierigkeiten mit der modernen Gesangstechnik jedoch lösten das Bedürfnis und die Suche nach ursprünglichen Formen des Singens aus. Im Zuge ihrer sich daran anschließenden musikethnologischen Studien konnte sie in den 1960er Jahren längere Zeit in Indien verbringen. Die Teilhabe an der dort noch lebendigen mündlichen Musik- und Musiziertradition – als Schülerin eines „Gurus“2 im Spiel der Tabla – wurde für sie zur prägenden Erfahrung. So bildete das imitatorische Lernen am Vorbild, das durch die gegenseitige respekt- und verantwortungsvolle Beziehung zwischen Meister und Schülerin getragen wird, in der Folgezeit auch den Ausgangspunkt für ihre Beschäftigung mit der mitteleuropäischen Musiktradition. Die Idee dabei lautete, die lebendigen musikethnologischen Erfahrungen gewissermaßen als eine Brücke in die Vergangenheit zu verwenden, um damit den im Wesentlichen mündlichen Vermittlungsweisen in der mittelalterlichen Vokalmusik auf die Spur zu kommen.
Dieser Versuch eines Wiederaufleben-Lassens einer vergangenen Musiktradition unter heutigen Bedingungen mutet von außen betrachtet höchst spekulativ an. Sein Gelingen hing umso mehr von einer charismatischen Meisterlehre ab. Gerade aber über das hohe Maß an Subjektivität wurden hier Erfahrungen möglich, die weit über die Vermittlung historischer Fakten und handwerklicher Fähigkeiten hinausgingen.
1 Dieses Meisterklassenklischee lässt sich in Reinkultur im Sketch „Masterclass“ des holländischen Satireduos „Van Kooten en De Bie“ aus den 1970er Jahren studieren: http://www.youtube.com/watch?v=ZWNvmqMBAoQ
2 Mit „Guru“ ist im Kontext dieses Artikels die traditionelle Position eines religiös-spirituellen bzw. eben auch künstlerischen Lehrers im östlichen Kulturkreis gemeint. Hiervon abzugrenzen ist die pejorative Konnotation des Begriffs im westlich geprägten Sprachgebrauch.
Lesen Sie weiter in Ausgabe 3/2012.