Kinsky, Veronika
Dramaturgie – die Kunst im Dazwischen
Musikunterricht im Spannungsfeld von ausgeklügelter Planung und ästhetischem Erlebnis
Ob im Theater oder im Kino, in der Werbung oder im Computerspiel: Dramaturgie kommt immer dann ins Spiel, wenn etwas erzählt wird, das Spannung erzeugen, Emotionen auslösen und Erlebnistiefe mit sich bringen soll. Genau dies sollte auch guter Musikunterricht bewirken. Umso erstaunlicher, dass dramaturgische Überlegungen sowohl in der Ausbildung von LehrerInnen als auch in der Forschung eher ein Schattendasein führen. Versperrt sich womöglich Unterricht – verstanden als planmäßige Unterweisung Lernender durch Lehrende – einer spannend gestalteten Dramaturgie? Eine Spurensuche in musikdidaktischer und empirischer Literatur.
Musikdidaktische Überlegungen
Auch wenn wir in der Musikdidaktik eine umfassende Auseinandersetzung mit den vielfältigen Aspekten unterrichtsdramaturgischen Geschehens bislang vermissen, so lassen sich doch wesentliche Teilaspekte finden, vor allem dort, wo es um die Gestaltung von Musizierprozessen in Gruppen geht, wenn interdisziplinäre Ansätze vorliegen oder beglückende Erlebnistiefe ein wichtiges Ziel des Unterrichts ist. Zudem finden sich in der Allgemeinen Didaktik Impulse, die sich an dramaturgisch-theatralen Praktiken orientieren. So untersuchte in den 1950er Jahren der Pädagoge Gottfried Hausmann die Entwicklung des Dramas, um daraus Schlüsse für die Didaktik zu ziehen. Er befand Dramatik als die entscheidendste Bedingung des Bildungsgeschehens und übertrug Merkmale des Dramas auf die Didaktik: Innerhalb der Handlung eines Dramas spielt ein inneres Kernstück eine bedeutende Rolle, aus dem sich organisch das Ganze entwickelt. Hausmann schließt daraus, dass Unterricht neben dem äußeren Ablauf innere Motive und innere Entwicklungsmöglichkeiten braucht, damit er lebendig wird. Die Triebfeder des dramatischen Geschehens ist die Spannung, die zwischen dem Außen und Innen aufgespannt wird.1
Auch der Erziehungswissenschaftler Hansjörg Neubert hält Dramaturgie für die wichtigste Komponente gelungenen Unterrichts. Er beschreibt Dramaturgie als eine Kunst, die auf Wirkung, sinnlichen Eindruck und Spannung angelegt ist. Sie schafft durch geeignete Ausdrucksformen (Gesten, Bewegung, Mimik, Tonfall in der Stimme, achtsame Präsenz…) und Gestaltungsmittel (zeitliche und räumliche Arrangements, szenische Effekte, Kunst Geschichten zu erzählen…) eine sinnlich anregende und ästhetisch stimulierende dichte Atmosphäre.2
Was bedeuten die Überlegungen von Hausmann und Neubert für die Musikdidaktik? Die bedeutende Rolle der Lehrperson und die Wichtigkeit eines strukturierten, abwechslungsreichen Unterrichtsverlaufs sind für dramaturgische Überlegungen in der Musikdidaktik unumstritten. Aber was genau entspricht dem Inneren, zu dem der äußere Ablauf einer Unterrichtsstunde in Spannung geraten soll? Geht es im Kern des Instrumental- und Vokalunterrichts sowie in der Elementaren Musikpraxis um das Musizieren selbst, dann gibt es ein ganz spezielles Inneres: Das Eigentliche, das Herzstück, dürften tiefgreifende ästhetische Erfahrungen in subjektiv stimmigen Musiziermomenten sein.3 Es geht, wie Peter Röbke beschreibt, um „Glücksmomente, Versunkenheit in den Klang und wirkliches Hin-Horchen, Dialog und Zuwendung, Aufgehen im selbstvergessenen Spiel, […] Momente im (Gruppen)Unterricht, in denen wir miteinander musizieren, als gäbe es kein Morgen“.4
Ist das Innere also die ästhetische Erfahrung in erfüllten Musiziermomenten, so ergeben sich daraus dramaturgisch interessante Aspekte: Claudia Meyer schreibt ästhetischen Erfahrungsräumen eine intensive Auseinandersetzung mit subjektiver emotionaler Anteilnahme zu, die Gewohntes aufbrechen und sich vom Alltag abheben. Sie sind situationsgebunden, individuell und entziehen sich jeglicher Planung und Kalkulierbarkeit.5 Ästhetische Erfahrungen verfolgen keine praktischen Funktionen und Zwecke und bilden damit einen Gegenpol zu kompetenz- und lernorientierter Didaktik.
Doch das eine ist nicht ohne das andere zu denken: Für einen dramaturgisch spannenden Unterrichtsverlauf brauchen wir einen ausgeklügelten Plan, der für Lernanregungen und Herausforderungen sorgt. Nur eine differenzierte Planungsstruktur kann berücksichtigen, wie der Anfang das Interesse und die Aufmerksamkeit zu fesseln vermag, an welchen Stellen die Spannung steigt, wo Verzögerungen, Wendepunkte, Überraschungen liegen oder wie Übergänge abwechslungsreich und kurzweilig gestaltet werden können. Somit eröffnet sich das zentrale dramaturgische Spannungsfeld: der innere Kern, die nicht planbare, zweckbefreite ästhetische Erfahrung innerhalb einer wohldurchdachten Struktur, die für einen lernanregenden, stimmigen, abwechslungsreichen dramaturgischen Aufbau sorgt. Damit diese Gratwanderung zwischen Planung und Raumöffnung, zwischen Lernanregung und Zweckfreiheit gelingen kann, ist die Kunstfertigkeit der Lehrkraft gefragt. Sie muss in der Interaktion mit den Teilnehmenden zwischen diesen Polen variantenreich künstlerisch-methodisch pendeln, damit sich die ereignishafte Wirkung entfalten kann.
1 Gottfried Hausmann: Didaktik als Dramaturgie des Unterrichts, Heidelberg 1959, S. 103 ff.
2 Hansjörg Neubert: „Lehrkompetenzen, Dramaturgie und Unterrichtsentwicklung“, in: Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (Hg.): Unterrichtsentwicklung – zum Stand der Diskussion, Bern 2004, S. 43 ff.
3 zu stimmigen Musiziermomenten vgl. Ruth Schneidewind: Die Wirklichkeit des Elementaren Musizierens, Wiesbaden 2011, S. 150 ff.
4 Peter Röbke: „Von der Unverfügbarkeit des Musiziermoments. Eine Spurensuche in der Instrumentalpädagogik“, in: Natalia Ardila-Mantilla/Peter Röbke/ Christine Stöger/Bianka Wüstehube (Hg.): Herzstück Musizieren. Instrumentaler Gruppenunterricht zwischen Planung und Wagnis, Mainz 2016, S. 45-64, hier: S. 60.
5 Claudia Meyer: „Inszenierung musikalisch-ästhetischer Erfahrungsräume in der EMP“, in: Juliane Ribke/ Michael Dartsch (Hg.): Gestaltungsprozesse erfahren – lernen – lehren, Regensburg 2004, S. 44-52.
Lesen Sie weiter in Ausgabe 6/2021.