Bitzan, Wendelin
Durch Analyse zum Auswendiglernen
Intentionales Memorieren am Beispiel eines Klavierstücks
Lehrtraditionen und landesspezifische Schulen bestimmen häufig die Methodik und die Zielsetzungen der Instrumentalausbildung, existieren aber nicht oder nur im Ansatz für die Disziplinen des Auswendiglernens und Auswendigspielens. Diese sind zwar ebenfalls Bestandteil des Unterrichts und werden vielfach gefordert oder vorausgesetzt, müssen dabei aber oftmals ohne systematische Unterweisung auskommen.
Gezielte Anregungen zum Auswendiglernen der geübten Stücke sind rar – und werden vielleicht gar nicht vermisst, wenn keine Schwierigkeiten auf diesem Gebiet auftreten.1 Viele SchülerInnen memorieren ihre Stücke intuitiv und ohne dies eigentlich zu beabsichtigen; das Auswendiglernen kann dann gewissermaßen als ein Nebeneffekt des Übens gelten. Es ist jedoch auch denkbar, dass der Unterricht das Gedächtnis des Schülers gezielt fördert und den Notentext analytisch erarbeitet.2 Auf diese Weise kann das Memorieren von Beginn der Auseinandersetzung mit einem Werk an einbezogen werden.
Am Beispiel eines der Sechs Kleinen Präludien von Johann Sebastian Bach (BWV 937) möchte ich ein mögliches Vorgehen schildern, wie intentionales Memorieren bei einem neu zu lernenden Stück gestaltet werden kann. Ein wichtiger Bestandteil der Strategie ist die dem Spielen vorausgehende Analyse des Notentexts. Die Anleitung ist in sechs Schritte unterteilt, welche allerdings nicht immer vollständig oder nicht in der geschilderten Detailliertheit durchlaufen werden müssen – dies ist vom Ausbildungsstand des Schülers oder der Schülerin, von seiner oder ihrer vorherigen Beschäftigung mit dem Werk und natürlich von der zur Verfügung stehenden Unterrichtszeit abhängig. Die Strategie ist für das Lernen am Instrument entwickelt worden; sie ist eigenständig oder mit Unterstützung durch eine Lehrkraft durchführbar. Obwohl es sich um ein Beispiel aus dem Klavierrepertoire handelt, ist die Strategie nicht instrumentenspezifisch zu betrachten. Prinzipiell ist sie auch rein in der Vorstellung anwendbar.
1 vgl. Rita Aiello/Aaron Williamon: „Memory“, in: Richard Parncutt/Gary E. McPherson (Hg.): The Science and Psychology of Music Performance, New York 2002, S. 176. Dort wird eine Studie zitiert, welche zeigt, dass Instrumentallehrkräfte häufig nicht hinterfragen, auf welche Weise ihre SchülerInnen das behandelte Repertoire memorieren.
2 In der musikpsychologischen Forschung wird Analyse als Zugang zu einem einzustudierenden Werk tendenziell sehr hoch bewertet und von der Expertiseforschung in Zusammenhang mit professionalisiertem Üben als notwendiges Mittel des Erwerbs von explizitem (bewusst und mit intellektueller Beteiligung der lernenden Person erzeugtem) Wissen erachtet; vgl. Nancy H. Barry/Susan Hallam: „Practice“, in: Parncutt/ McPherson, a. a. O., S. 154.
Lesen Sie weiter in Ausgabe 4/2010.