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Borchert, Johanna / Verena Bons

Eigene Traditionen

Wie positionieren sich Musikvereine in der kulturellen Bildungslandschaft?

Rubrik: Forschung
erschienen in: üben & musizieren 4/2022 , Seite 48

Blasmusikvereine sind besonders in ländlichen Räumen wichtige musi­kalische Orte, die auch mit anderen Institutionen wie Musikschulen in Beziehung stehen. Rekonstruktive Sozialforschung ermöglicht Einblicke in ihre Alltagspraxis und beleuchtet so die Perspektive derjenigen, die die Musikvereinsarbeit gestalten. Im Folgenden werden ihre Einstellungen und Überzeugungen zu Kooperatio­nen mit Musikschulen dargestellt.

Blasmusikvereine spielen insbesondere in den ländlichen Räumen Deutschlands eine wichtige Rolle:1 Sie bieten einerseits einer großen Zahl an AmateurmusikerInnen verschiedener Generationen die Möglichkeit, vor Ort gemeinsam zu musizieren.2 Andererseits gestalten sie musikalische Veranstaltungen und schaffen der örtlichen Bevölkerung dadurch Möglichkeiten, Musik zu erleben. Darüber hinaus sind sie wichtige Kooperationspartner in der kulturellen Bildungslandschaft: Während bis vor einigen Jahren die meisten Vereine ihren Nachwuchs in vereinsinternen Unterrichtsstrukturen ausbildeten, existieren heutzutage mannigfaltige Beziehungen zu allgemeinbildenden Schulen (z. B. im Rahmen von Bläserklassen), privaten Instrumentallehrkräften und Musikschulen.3 Dabei kommt es auch zu personellen Überschneidungen, etwa durch Kinder und Jugendliche des Musikvereins, die ihren Ins­trumentalunterricht in der Musikschule erhalten, aber im Jugendorchester des Musikvereins spielen, oder durch Instrumentallehrende, die sowohl in Musikschulen als auch in Musikvereinen pädagogisch tätig sind.4
Obschon Musikvereine die Amateurmusikkultur insbesondere in ländlichen Räumen Deutschlands maßgeblich prägen, spielen sie im musikpädagogischen Fachdiskurs kaum eine Rolle. Es gibt bislang nur vergleichsweise wenige Berichte zur Situation von Musikvereinen5 und wenige empirische Studien, die Musikvereine in den Blick nehmen.6 Auch der Themenbereich der Kooperationsbeziehungen von Musikvereinen zu anderen Partnern kultureller Bildung blieben bislang unberücksichtigt, obgleich Kooperationen insbesondere seit dem Beginn des Programms JeKi in den Fokus musikpädagogischer Forschung gerückt sind.7

Forschungsprojekt MOkuB

Das Forschungsprojekt MOkuB (Musikvereine als Orte kultureller Bildung) an der Hochschule für Musik Freiburg möchte der beschriebenen Forschungslücke begegnen, indem es die Perspektive der AkteurInnen untersucht:8 Es erforscht in zwei Teilprojekten einerseits Einstellungen und Überzeugungen von Musikvereinsmitgliedern in Bezug auf ihr Selbstverständnis als Amateurmusizierende, andererseits aber auch Kooperationsbeziehungen von Musikvereinen zu anderen Institutionen und AkteurInnen kultureller Bildung. Dabei wird die Frage verfolgt, welche handlungsleitenden Orientierungen der Alltagspraxis (und somit auch der Kooperationspraxis) von MusikvereinsakteurInnen zugrunde liegen. Die Ausrichtung des Forschungsprojekts berücksichtigt, dass Musikvereine maßgeblich von Ehrenamtlichen getragene Institutionen sind (etwa im Gegensatz zu Musikschulen). Grundlegende Erkenntnisse zu den Perspektiven und Einstellungen der AkteurInnen selbst sind somit nicht nur für die Musikvereine selbst von Interesse, sondern auch für das Zusammenwirken der verschiedenen Institutionen und Personen in der kulturellen Bildungslandschaft.
Diese Forschungsfragen untersuchen wir mit der dokumentarischen Methode nach Ralf Bohnsack.9 Wir gehen davon aus, dass Menschen, die eine gemeinsame Alltagspraxis haben, auch gemeinsame Regeln und Überzeugungen einerseits und handlungsleitende Orientierungen andererseits miteinander teilen. Die geteilten Überzeugungen liegen auf einer expliziten Wissensebene („kommunikatives Wissen“),10 die den Personen durch Selbstreflexion zugänglich ist. So können etwa die MusikerInnen des Musikvereins Gründorf (der Fantasiename „Gründorf“ wird als Pseudonym für einen anderen Ortsnamen benutzt) davon überzeugt sein, dass ihr Verein von einer großen Gemeinschaft geprägt sei. Gleichzeitig gibt es aber auch Orientierungen, die auf einer impliziten Wissensebene liegen und ebenfalls das Handeln von Menschen leiten. Diese Wissensebene entstammt der geteilten Alltagspraxis selbst und ist im Gegensatz zum expliziten Wissen nicht reflexiv zugänglich. Während die MusikerInnen des Musikvereins Gründorf also einerseits immer wieder die eine große Gemeinschaft hervorheben, beschreiben sie andererseits in Erzählungen über ihre Musikvereinsbiografie insbesondere die Bedeutung kleiner Gemeinschaften innerhalb des Vereins. Explizites Wissen und implizites Wissen können also durchaus in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen. Das Zusammenwirken dieser beiden Ebenen, die das Handeln von Menschen in ihrer Alltagspraxis leiten, kann als „Orientierungsrahmen“ (im weiteren Sinne)11 bezeichnet werden. Diesen Orientierungsrahmen erforschen wir in Bezug auf die Alltagspraxis in Musikvereinen.
Dazu haben wir an mehreren Standorten in Baden-Württemberg, Bayern und Nordrhein-Westfalen Gruppendiskussionen mit verschiedenen AkteurInnen innerhalb der Musikvereinsszene (z. B. Mitglieder, Vertrete­rInnen der [Dach-]Verbände) und an ihren Schnittstellen (z. B. Musikschullehrkräfte) durchgeführt. Initiiert wurden die Gruppendiskussionen als selbstläufige Gespräche nur durch einen kurzen Erzählimpuls (z. B. „Was bedeutet Musikverein für euch?“). Im Anschluss an das ungelenkte Gespräch unter den AkteurInnen wurden kurze Nachfragen gestellt zu Themen, die die Forschenden besonders interessant fanden oder die ihnen als Außenstehenden unklar waren. Diese Gruppendiskussionen wurden transkribiert, anonymisiert sowie pseudonymisiert und anschließend mithilfe der beiden Analyseschritte der dokumentarischen Methode – der „formulierenden Interpretation“ und der „reflektierende Interpretation“12 – analysiert. Im Folgenden werden zwei Beispielpassagen in dieser Form ausgewertet und miteinander verglichen.

1 vgl. Ministerium für Ländlichen Raum und Verbraucherschutz Baden-Württemberg (MLR): Kultur in den Ländlichen Räumen Baden-Württembergs: Situation, Trends, Potentiale und Handlungsfelder, Stuttgart 2013, S. 35.
2 vgl. Oebelsberger, Monika: „The phenomenon ,Blasmusik‘ (music for wind instruments) in Austria – its sig­nificance for music education in the international context“, in: Liimets, Airi/Mäesalu, Marit: Music Inside and Outside the School, Frankfurt am Main 2011, S. 283-287.
3 vgl. ebd., S. 287.
4 vgl. Ardila-Mantilla, Natalia: Musiklernwelten erkennen und gestalten. Eine qualitative Studie über Musikschularbeit in Österreich, Wien 2016, S. 178-205.
5 Laurisch, Matthias: „Musikvereine gestalten Möglichkeitsräume für Kinder und Jugendliche“, in: Hübner, Kerstin/Kelb, Viola/Schönfeld, Franziska/Ullrich, Sabine: Teilhabe. Versprechen?! Diskurse über Chancen- und Bildungsgerechtigkeit, kulturelle Bildung und Bildungsbündnisse, München 2017, S. 227-234; Laurisch, Matthias: „Das Klingen abseits urbaner Zentren. Wie Musikvereine ihre ländlichen Räume prägen und gestalten“, in: kubi-online, 2018, www.kubi-online.de/artikel/klingen-abseits-urbaner-zentren-musikvereine-ihre-laendlichen-raeume-praegen-gestalten (Stand: 13.2.2022); Overbeck, Lorenz: „Zur Bedeutung des vereinsgetragenen Amateurmusizierens in ländlichen Räumen“, in: kubi-online, 2018, www.kubi-online.de/artikel/zur-bedeutung-des-vereinsgetragenen-amateurmusizierens-laendlichen-raeumen (Stand: 14.2.2022).
6 z. B. Forrer, Christina: Jugendförderung in Blasmusikvereinen des Kantons St. Gallen, 2015, www.sgbv.ch/fileadmin/documents/Downloads/2015_masterarbeit_forrerchristina.pdf (Stand: 14.2.2022); Lehmann, And­reas C.: „Musikvereine (Blasmusikkapellen) und die ­Arbeit ihrer Dirigenten“, in: Lehmann, Andreas C./Weber, Martin: Musizieren innerhalb und außerhalb der Schule, Essen 2008, S. 209-220; Nowak, Jennifer: Musizieren und Fußballspielen in der Freizeit, Baden-Baden 2020.
7 Kulin, Sabrina/Schwippert, Knut: „Kooperationsbeziehungen im JeKi-Kontext: Beweggründe zur Kooperation und Merkmale gemeinsamer Reflexion methodischer und didaktischer Fragen“, in: Knigge, Jens/Niessen, ­Anne (Hg.): Musikpädagogisches Handeln. Begriffe, ­Erscheinungsformen, politische Dimensionen, Essen 2012, S. 152-171.
8 So wurde beispielsweise bereits herausgearbeitet, wie sich Musikvereine von Musikschulen abgrenzen: Bons, Verena/Borchert, Johanna/Buchborn, Thade/ Lessing, Wolfgang: „Wie verorten Mitglieder von Musikvereinen ihre Arbeit in Abgrenzung zur Praxis von Musikschulen? Eine dokumentarische Studie zu Musikvereinen im ländlichen Raum“, in: Kolleck, Nina/Büdel, Martin/Nolting, Jenny: Forschung zu kultureller Bildung in ländlichen Räumen. Methoden, Theorien und erste Befunde, Weinheim 2022, S. 349-369.
9 Bohnsack, Ralf: Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden, Opladen 2014.
10 Bohnsack, Ralf: Praxeologische Wissenssoziologie, Opladen 2017, S. 103.
11 ebd.
12 beide: Bohnsack, Rekonstruktive Sozialforschung, a. a. O., S. 35.

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