von Gutzeit, Reinhart

Ein Fenster aufgestoßen

Im Gespräch mit Birgit Walter über Lerntempo, Lernort und Lernziel des JeKi-Unterrichts

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 2/2012 , Seite 11

Im einleitenden Beitrag dieser Ausgabe beschreibt Birgit Walter den Weg von “Jedem Kind ein Instrument” vom Projekt zum Programm. Reinhart von Gutzeit hat einige Aussagen und Inhalte des Artikels aufgegriffen und noch einmal nachgefragt.

Reinhart von Gutzeit: Sie schildern die Umstände der Entstehung des JeKi-Projekts sehr eindringlich. Es war offenbar 2006 eine besondere Konstellation und so galt es, die Gunst der Stunde zu nutzen. Das berühmte „window of opportunity“ existiert aber auch in der Musikpädagogik. Was sagen Sie zu der Sorge mancher Instrumentallehrer, dass das auf vier Jahre angelegte Programm viel zu langsam voranschreitet (der JeKi-Film verwendet den Untertitel „Ein Jahr mit vier Tönen“) und viele Kinder in ihren besten Entwicklungsjahren stark unterfordert?
Birgit Walter: Die Aussage, dass das Lerntempo von JeKi zu langsam sei, taucht ja immer mal wieder in der Diskussion auf. Es soll hier allerdings einmal klar gesagt werden, dass der Titel des JeKi-Films „Ein Jahr mit vier Tönen“, der ja im Übrigen auch nicht von der Stiftung in Auftrag gegeben wurde, weder so von der Stiftung formuliert wurde noch für richtig gehalten wird. Natürlich ist das Durchschnittstempo, wenn ich alle Kinder anspreche und allen die Chance geben möchte, ein Musikinstrument zu erlernen und aktiv zu musizieren, ein anderes, als wenn ich nur einen kleinen, vorselektierten Teil einer Generation anspreche. Aber es gibt bei JeKi keine Vorgaben über das vorzunehmende Lerntempo oder gar ein Curriculum, das die Kinder in ihrer Entwicklung bremst. Vielmehr ist es so, dass sich das Tempo des JeKi-Unterrichts an die teilnehmenden Kinder anpasst und sich individuell nach dem einzelnen Kind richtet. Und dass sich JeKi-Unterricht und musikalische Spitzenleistungen nicht ausschließen, zeigt sich an der erfolgreichen Teilnahme von JeKi-Kindern an einem so leistungsorientierten Wettbewerb wie „Jugend musiziert“ in diesem und im letzten Jahr – hier lässt sich die Bestleistung der JeKi-Kinder auf absoluter Ebene offensichtlich sehr wohl mit der Bestleistung der Schüler aus dem Kernbereich der Musikschule messen. Und um Ihr Schlagwort vom „window of opportunity“ einmal aufzugreifen: Viele Kinder erhalten ja erst durch JeKi ihr eigenes „window of opportunity“, um überhaupt in den Genuss zu kommen, ein Instrument erlernen zu dürfen. Und auf die Öffnung dieses Fensters sind wir ganz besonders stolz.

Reinhart von Gutzeit: Ein wichtiger Aspekt der JeKi-Idee ist mit dem Satz beschrieben: Die Lehrer gehen zu den Schülern. Verbindet sich damit aber nicht die Gefahr, dass die Alltagsroutine, die den schulischen Unterricht vielfach prägt und lähmt, auch auf die JeKi-Stunden übergreift? Als Werner Probst vor Jahrzehnten das Projekt „Instrumentalspiel mit Behinderten“ entwickelte, war ihm sehr wichtig, dass alle Kinder zur Musikschule kamen – trotz des damit verbundenen Aufwands. Er setzte auf das Prestige der Musikschule und auf ihre besondere Atmosphäre, die Atmosphäre einer Schule „anderer Art“. Sehen Sie – Sie waren selbst Musikschulleiterin – diesen Gedanken als weniger wichtig an? Sie warnen in einem Gespräch mit der nmz davor, sich in der Musikschule einzukuscheln…
Birgit Walter: Ich bin zunächst etwas überrascht darüber, dass Sie die „Alltagsroutine“ an den Grundschulen als „lähmend“ bezeichnen, ich erlebe dies ganz anders. Um aber über das vor vielen Jahren entstandene Projekt von Werner Probst zu sprechen: Dieses ist damals in einem ganz anderen gesellschaftlichen Kontext entstanden und lässt sich daher meines Erachtens nur schwer zum direkten Vergleich heranziehen. Der große Fortschritt bestand seinerzeit darin, Kinder mit Behinderungen überhaupt an außerschulischen Angeboten teilhaben zu lassen, also deutlich werden zu lassen, dass Musikschulen auch für Kinder mit Behinderungen offen sind. Heute, da wir auch unter dem Gesichtspunkt des „Aktionsplans Inklusion“ schon viel weiter sind, haben wir nicht mehr das Problem, dass Musikschulen sich öffnen müssen, um grundsätzlich für alle Kinder erreichbar zu sein, sondern dass sie, gewissermaßen in einem zweiten Schritt, sich – wohlgemerkt zusätzlich zum und nicht anstatt des Kernbereichs – zu den Kindern hinbewegen müssen, um auch faktisch alle Kinder zu erreichen. Und genau das habe ich in dem nmz-Interview thematisiert. Und dieses Ziel, faktisch und nicht nur theoretisch alle Kinder zu erreichen, umsetzen zu wollen, ohne die Schulen, die sich zunehmend zum Lern- und Lebensort der Kinder entwickeln, als gewichtigen Faktor miteinzubeziehen, wäre meines Erachtens weder erfolgversprechend noch zeitgemäß.

Reinhart von Gutzeit: Wenn man JeKi als groß angelegten Einführungskurs betrachtet, dann stellt sich, ähnlich wie nach der Früherziehung oder Grundausbildung, die Frage nach einem gelingenden Übergang zum weiterführenden Instrumentalunterricht. Wie sind die Erfahrungen mit dieser „Nahtstelle“?
Birgit Walter: JeKi als „Einführungskurs“ zu bezeichnen, sehe ich sehr kritisch. Es handelt sich bei JeKi um gängigen Instrumentalunterricht. Der einzige Unterschied zum Kernbereich der Musikschule besteht in der einzigartigen Struktur von JeKi, die an die Grundschule angelehnt ist. Was den Übergang der JeKi-Grundschulkinder an die weiterführende Schule in musikalischer Hinsicht angeht, so sammeln wir hier noch unsere Erfahrungen, da dies derzeit nur die rund 7000 Erstklässler betrifft, die 2007 mit JeKi im Ruhrgebiet starteten. Die Rückmeldungen, die wir dazu von den Musikschulen erhalten haben, sind durchweg positiv: Fast allen Kindern, die ab der fünften Klasse weiter unterrichtet werden wollten, konnte ein Angebot unterbreitet werden. Die Musikschulen haben das Potenzial, das durch JeKi vorhanden ist, im Blick und bereiten sich durchaus darauf vor, dafür ein funktionierendes System im Kernbereich vorzuhalten. Ein Beispiel aus der Stadt Hamm sei hier angeführt: So erhalten hier alle JeKi-Kinder mit Programmstart die Garantie, später einen Platz an der Musikschule zu bekommen.

Reinhart von Gutzeit: Sie kritisieren die Einstellung, „dass wir als LehrerInnen vor allem dann unser Ziel erreicht haben, wenn der Schüler oder die Schülerin sich in einem absoluten Leistungsspektrum möglichst weit oben positionieren kann“. Lassen wir die schwierige Frage nach dem „Absoluten“ einmal beiseite (wer setzt die Maßstäbe – Einstein? Boulez?), dann frage ich mich, ob dies nicht genau die Forderung ist, die an einen Lehrer gestellt werden sollte und in einem Schulfach wie Mathematik auch selbstverständlich gestellt wird? Warum wäre ein Leistungsdenken in dem Sinne, dass sich unsere Schüler innerhalb der ihnen gesetzten Grenzen so weit wie möglich entwickeln, im Bereich der Musik suspekt?
Birgit Walter: Hier handelt es sich um ein Missverständnis. Ich kritisiere keineswegs die Einstellung der Lehrkräfte, Leistung von ihren Schülern einzufordern, sondern beschreibe lediglich den häufig anzutreffenden Zustand, dass Leistung in der Musik oft eher absolut als relativ definiert wird. Mir geht es darum, alle Kinder im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu fördern und, ja, auch zu fordern, deswegen halte ich ja auch in der außerschulischen Bildung eine gewisse Ernsthaftigkeit für notwendig. Die Mathematiklehrkraft, die Sie anführen, ist meines Erachtens sogar ein wunderbares Beispiel dafür, wie ich mir Musikpädagogik vorstelle: Diese Mathematiklehrkraft unterrichtet Kinder, deren Ausgangsbedingungen sich im Zweifel im Spekt­rum zwischen Dyskalkulie und mathematischer Hochbegabung erstrecken, wie es eben geschieht, wenn wirklich jedes Kind am Unterricht teilhat. Und ihre Aufgabe besteht darin, jedes Kind im Rahmen seiner Möglichkeiten zu „seiner“ Höchstleistung zu bringen. Dies kann den Mathematik-LK mit anschließendem Mathematik-Studium bedeuten, dies kann aber auch bedeuten, dass ein Kind die Grundrechenarten sicher beherrschen lernt. Und diese Lehrkraft wird beide Lernergebnisse relativ als vollen Erfolg betrachten, obwohl die absoluten Ergebnisse höchst unterschiedlich sein können. Wenn wir diesen Geist in die Musikpädagogik einfließen lassen könnten, wäre meines Erachtens ein großer Schritt in dieser Diskussion getan.

Reinhart von Gutzeit: Wenn man mit JeKi-Lehrkräften spricht, dreht sich die Diskussion sofort um die Rahmenbedingungen: um die Zusammenarbeit der Institutionen, die Schwierigkeiten des Klassenunterrichts, die als ungerecht empfundene Vergütungssituation. Die musikalischen Inhalte des Unterrichts scheinen die Kolleginnen und Kollegen sehr viel weniger zu bewegen – anders als bei Lehrenden, die nach der Suzuki-Methode, der Kodály-Methode oder dem Orff-Schulwerk unterrichten und mit leuchtenden Augen von ihrer Arbeit erzählen. Wird es, wenn das von Ihnen angesprochene Lehrwerk fertig ist, eine „JeKi-Methode“ geben und wer ist verantwortlich für dieses Projekt?
Birgit Walter: Verantwortlich für das Lehrwerk, sprich für das pädagogische Material, sind die Stiftung, der Schott-Verlag und die jeweiligen Autoren der einzelnen Bände. Wir entwickeln aber keine spezielle „JeKi-Methode“, dafür ist der JeKi-Unterricht gar nicht weit genug vom normalen Musikschul-Gruppenunterricht entfernt, es geht vielmehr um didaktische Adaptionen.
Sie haben eingangs die schwierigen Rahmenbedingungen erwähnt. Hier lässt sich sagen, dass viele Anfangsschwierigkeiten bereits bewältigt werden konnten, manches sicherlich aber auch noch vor uns liegt. Es ist eine große Herausforderung, wenn unterschiedliche Institutionen mit ihren eigenen gewachsenen Strukturen plötzlich so eng miteinander arbeiten. Aber allein dies erreicht zu haben, ist doch ein beachtlicher Fortschritt! Was die Vergütungssituation der Lehrkräfte betrifft, so kann ich hier nur unsere Programmstandards erwähnen. In diesen ist klar definiert, dass Lehrkräfte, die im JeKi-Programm eingesetzt werden, die für Musikschullehrkräfte übliche Tarif-Vergütung erhalten sollen. Wir setzen uns sehr dafür ein, dass diese Vorgaben eingehalten werden, aber letztlich machen nicht wir als Stiftung die Verträge mit den Lehrkräften, sondern die Musikschulen. Mancherorts kann es auch sehr schwierige rechtliche Rahmenbedingungen in einer Kommune geben, sodass eine Musikschule die Programmstandards leider nicht immer im vollen Umfang einhalten kann.

Reinhart von Gutzeit: Jetzt wird aus dem ­JeKi-Umfeld (einschließlich der Politik) auf die Hochschulen gezielt und von ihnen gefordert, „JeKi-gerechte“ Pädagogen auszubilden. Es ist ein wiederkehrendes und sicher nicht unbegründetes Ritual; auch ich habe früher oft die Hochschulen gemahnt, den Musikschulalltag stärker in den Blick zu nehmen. Aber wäre es in diesem Fall nicht besser gewesen, Hochschulen im Sinne eines Forschungsprojekts an der Entwicklung einer geeigneten Methodik zu beteiligen, als von ihnen Lehrkräfte zu erwarten, die sich einem noch auf wackeligen methodischen Füßen stehenden Unterrichtsmodell gewachsen fühlen?
Birgit Walter: Den Begriff „JeKi-gerecht“ halte ich für falsch, und dass es bei JeKi nicht einfach um eine Frage der Methodik geht, habe ich bereits ausgeführt. Es geht nicht darum, den speziellen JeKi-Lehrer auszubilden, sondern den Instrumentalpädagogen, der auch im Programm „Jedem Kind ein ­Instrument“ unterrichten kann. Das gehört zum heutigen Aufgabenspektrum der Lehrkraft dazu. Wir sind diesbezüglich im Gespräch mit den Hochschulen. In den Studienplänen der Musikhochschulen zeichnen sich bereits Änderungen ab, die auf eine stärkere Orientierung der Ausbildung an den Anforderungen des späteren Berufslebens abzielen. Diese Entwicklung muss aber noch weiter voranschreiten.

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