Schroth, Gerhard
Ein Lob der Theorie
Das EPTA-Seminar in der Musikschule Hildesheim wollte die Lücke von Theorie und Praxis schließen
Jeder Klavierpädagoge kennt die Geschichte vom Studenten, der fingerfertig Chopins Klavierkonzert Nr. 1 hinlegt und anschließend an der Aufgabe, eine simple e-Moll-Kadenz zu spielen, kläglich scheitert. Schon vor vielen Jahren erzählte die unvergessene Edith Picht-Axenfeld eine Variante mit Beethovens Konzert Nr. 5 und der Es-Dur-Tonleiter, dies ist also gewiss keine Erfindung notorisch in der Hochschul-Hierarchie unterdrückter Theorielehrkräfte. Tatsächlich fängt für viele die wahre Musik erst jenseits der elementaren Fakten der Harmonielehre und ihrer Regelzwänge an, nicht nur für AnfängerInnen an den Tasteninstrumenten. Diese Kluft zu überbrücken war das Kernziel eines Seminars der deutschen Sektion der EPTA an der Musikschule Hildesheim, das traditionsgemäß thematisch an den Kongress im Herbst des Vorjahrs anschloss.
Wie sich das Profil des Klavierunterrichts in den vergangenen Jahren gewandelt hat, zeigte der Einblick in den neuen Klavierlehrplan des VdM, den Sibylle Cada und Sigrid Naumann gaben. Lehrkräfte dürfen sich nicht mehr nur darauf beschränken, das Lehrwerk zu suchen, das von Nr. 1 bis 151 den bequemsten Weg durch den Dschungel immer schwieriger zu entschlüsselnder Notencodes bis zur „Appassionata“ verspricht. Mit immer früherem Beginn bis in die Zeit des Vorschulalters hinein gewinnt das Spiel ohne Noten an Bedeutung, Improvisation eingeschlossen, und die Popmusik bietet motivierende Alternativen, auch wenn sie als Sparte bei „Jugend musiziert“ gescheitert ist, wie Peter Haseley in seinem Bericht über die Erfahrungen mit dem neuen Reglement des Wettbewerbs eingestand.
Improvisation war ein Stichwort, das eine Reihe von Beiträgen wie ein roter Faden verband. Dies gipfelte in einer einstündigen spontanen Demonstration von Roland Maria Stangier an der großen Orgel in St. Michaelis. Die neun Themen, die SeminarteilnehmerInnen dem in französischer Improvisationstradition geschulten Organisten gestellt hatten, nahmen zum Teil auf Kursthemen wörtlich Bezug. Sie gipfelten in einer Fuge über einen Modus von Olivier Messiaen; ein stimulierendes Erlebnis, gerade für experimentierfreudige Pädagoginnen und Pädagogen.
Schon das Begrüßungskonzert der Musikschule zeigte Alternativen zum traditionellen Unterricht, Alternativen, wie sie sich auch in den Übemodellen von Günter Wiepking oder in der Blues-Werkstatt von Herbert Wiedemann konkretisierten, ebenso wie im Improvisationsseminar mit Gabriele Stenger-Stein, die das Intervall systematisch in den Mittelpunkt ihrer Anregungen stellte. Musik jenseits gewohnter Bahnen boten auch Milan Franek (mit Jazz-Etüden von Milan Dvorák) und Betin Günes (mit türkischer Musik) sowie Pooyan Azadeh, der im Rahmen des Ideenforums knappe Einblicke in iranische Musik gab.
Die unselige Kluft zwischen Theorie und Praxis, Analyse und Interpretation versuchte der Berliner Philip Peter durch eine eigenwillige Methode zu schließen: Er setzte bei einer Analyse geeigneter Stücke aus Béla Bartóks Mikrokosmos an mit dem Ziel, sie zum Ausgangspunkt eigener improvisatorischer Versuche zu machen. Seine Fortsetzung fand dieser Aspekt im Vortrag des Düsseldorfer Hochschullehrers Frank Zabel: An Musica ricercata und ausgewählten Etüden György Ligetis erläuterte der Düsseldorfer Hochschullehrer den Parameter Tonalität in neuer Musik als Ausgangspunkt eindringlicher Betrachtungen. Aufschlussreich erwies sich die Balance zwischen traditionellen und fortschrittlichen Elementen, wie sie für Ligeti charakteristisch ist.
Wie subtiles Tonalitätsempfinden unmittelbar Wege zu eigenständiger Interpretation eröffnet, belegte Heribert Koch an charakteristischen Beispielen. So kann ein simpler Oktavklang (Chopins g-Moll-Ballade) konkrete Erwartungen auslösen, andererseits kann die Fortführung einer Phrase in gewohnten Bahnen das Sensorium für das Außergewöhnliche einer Entwicklung (etwa zu Beginn der „Waldstein-Sonate“) verfeinern. Insgesamt zeichneten sich die scheinbar theoretisch angelegten Beiträge durch entschiedene Praxisnähe aus. Dies galt sogar für den Vortrag von Anton Voigt, der sich der historischen Entwicklung eines einzigen Akkords widmete: dem Neapolitanischen Sextakkord. Freilich verstand es der Präsident der EPTA Österreich, die Geschichte dieses einzigartigen Akkords im Spiegel der einschlägigen Musik-Lexika entscheidend zu profilieren und den Weg vom alterierten Akkord als Tonsatz-Phänomen zum entschiedenen Ausdrucksmittel plastisch zu schildern. Hierzu trugen auch anschauliche Literaturbeispiele von Rameau (La pleureuse) und Bach über Haydn, Mozart (Don Giovanni) und Beethoven entscheidend bei.
Noch einmal schlug Matthias Franke mit dem Hinweis auf das Partimento-Spiel, einer langwirkenden italienischen Variante des Generalbass-Spiels, eine glückliche Brücke zwischen Theorie und Praxis, wie sie in diesen Hildesheimer Tagen wiederholt gelang. Was in der Konzeption zunächst weniger spektakulär wirkte, hat gleichwohl die Chance, fruchtbar in den pädagogischen Alltag fort- und hineinzuwirken. Gibt es ein schöneres Kompliment?
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