Wohlwender, Ulrike

Ein Pionier der Musikphysiologie

Christoph Wagner zum 80. Geburtstag

Rubrik: Bericht
erschienen in: üben & musizieren 3/2011 , Seite 40

Musikphysiologie und Musikermedizin in Deutschland − ohne den Pioniergeist Chris­toph Wagners, ohne seine Weitsicht und seinen Mut, Neuland zu betreten, ist beides kaum denkbar. Als der 32-jährige Mediziner und Musiker 1963 an Musikhochschulen und Universitäten anklopft, um für eine experimentelle instrumentalpädagogische Forschung zu werben, schütteln noch viele verständnislos den Kopf: Forschung an einer Musikhochschule? Naturwissenschaft für Musiker? Prävention von Berufskrankheiten? Im Jahr 2011 gehören solche Zweifel der Vergangenheit an. Angebote der Musikphysiologie, Institute für Musikermedizin und Zentren für Musikergesundheit sind vielerorts selbstverständlicher Teil des Musikstudiums.
Forschung, Lehre und Beratung dort, wo Musik und Musikpädagogik stattfindet, an den Musikhochschulen − das war von Anfang an Christoph Wagners Ziel. Mit der Gründung des Instituts für Musikphysiologie 1974 an der Musikhochschule Hannover (bis 1979 unter dem Namen Institut für experimentelle Musikpädagogik) gelang dies erstmalig in Europa. In den 1990er Jahren folgen Weimar, Frankfurt am Main, Zürich, später Dresden, Berlin, Freiburg, Detmold, Köln u. a.
Christoph Wagner zu würdigen heißt, neben seiner Aufbauarbeit zunächst seine singuläre Forschung zur Individualität der Musikerhand wahrzunehmen. Die Vergleichswerte professioneller Musikerinnen und Musiker offenbaren eine enorme Variationsbreite und stellen das Verständnis spieltechnischer Prob­leme und organischer Beschwerden auf eine objektive Grundlage. Gemeinsam mit dem amerikanischen Neurologen Frank Wilson widmet sich Christoph Wagner auch dem Problem der Fokalen Dystonie. Mit dem individuellen „Handprofil“ gelingt überdies der Brückenschlag in die pädagogische und medizinische Praxis.
Wagners Gesamtkonzept musikpädagogischer Forschung umfasst schon 1963 neben der Frage nach den individuellen Gegebenheiten die Frage nach der Effizienz von Lern- und Übungsmethoden und die Frage nach den konkreten musikalischen Ergebnissen. So misst er u. a. die rhythmische Präzision von Konzertpianisten und die Tempostabilität von Herbert von Karajan − mit einer Genauigkeit von 1/1000 sec. Im Vergleich der „Könner“ mit SchülerInnen und StudienanfängerInnen wird schnell das pädagogische Potenzial sichtbar.
Christoph Wagner etabliert die junge Diszip­lin Musikphysiologie im fortwährenden Dialog mit der instrumentalpädagogischen Praxis. So ist er 1979 Gründungsmitglied der European Piano Teachers Association (EPTA) und des Arbeitskreises Saarbrücker Gespräche der Klaviermethodikdozenten (1986) sowie häufiger Gast in Musikhochschulen und Musikschulen, beim Verband deutscher ­Musikschulen (VdM) und bei der European String Teachers Association (ESTA). Den Austausch mit den Medizinern befördert er, indem er 1991 den Arbeitskreis Ärzte für Musiker Hannover ins Leben ruft. 1992 veranstaltet er das erste internationale und interdis­zip­linäre Symposion von Musikern und Medizinern in Deutschland: „Medizinische Prob­leme bei Instrumentalisten − Ursachen und Prävention“.
Geboren am 20. Mai 1931 in Marburg und aufgewachsen in Weilburg/Lahn, studiert Christoph Wagner zunächst Medizin in Marburg, Mainz und München. Nach der Promotion nimmt er in Detmold ein Musikstudium auf (1958-1963, Hauptfach Dirigieren bei Martin Stephani, Klavier bei Renate Kretschmar-Fischer, Tonsatz bei Günter Bialas). Hier lernt er Schwierigkeiten der Ausbildung und Sorgen der Kommilitoninnen und Kommilitonen aus nächster Nähe kennen. Nach eingehenden Beratungen mit ausübenden Musikern, Pädagogen und Wissenschaftlern reift der Entschluss, den Problemen mit wissenschaftlichen Methoden nachzugehen.
Schließlich gelingt es ihm, den Direktor des Max-Planck-Instituts für Arbeitsphysiologie Dortmund, Gunther Lehmann, von seinem Konzept zu überzeugen. Ideell von der Direktorenkonferenz der Musikhochschulen und finanziell von der Thyssen- und der Volkswagen-Stiftung unterstützt, beginnt im Herbst 1964 eine zehnjährige Grundlagenforschung. 1974 zum Professor an die Musikhochschule Hannover berufen, baut Christoph Wagner das Institut für Musikphysiologie auf, das sich zur deutschlandweiten Anlaufstelle für Musiker mit Handproblemen entwickelt. Erstmals wird Musikphysiologie Pflichtfach im Curriculum des Instrumentallehrer-Studiums. Durch Gastvorlesungen im In- und Ausland wächst das Interesse am neuen Fachgebiet.
Nach seiner Emeritierung 1993 bleibt er Weggefährten und Arbeitskreisen weiter verbunden. Die 1994 von ihm mitbegründete Deutsche Gesellschaft für Musikphysiologie und Musikermedizin (DGfMM) ernennt ihn 2001 zu ihrem Ehrenmitglied. 2005 erscheint sein Grundlagenwerk Hand und Instrument. Im Team um Horst Hildebrandt wird sein Forschungsansatz am 2009 gegründeten Zürcher Zentrum Musikerhand (www.zzm.ch) weiterentwickelt.
Wenige kennen den Musiker Christoph Wagner. Wer ihm beim Improvisieren am Klavier zuhört, versteht, dass es diese unmittelbare Nähe zur Musik ist, die ihn antrieb und antreibt, eine Wissenschaft für Musiker zu schaffen.

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