Twelsiek, Monika

Einfach? Kompliziert! Kompliziert? Einfach!

Warum Elementarunterricht und „Meisterlehre“ zwei Seiten einer Medaille sind

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 6/2012 , Seite 12

Wer glaubt, Lernprozesse – also auch das Erlernen des Instrumentalspiels – ähnelten dem Bau eines Kinder­turms, bei dem man Klötzchen auf Klötzchen setzt und daraus ein gelungenes Ganzes bildet, der irrt. Glücklicher ist der Vergleich mit einem unscharfen Foto, bei dem von Anfang an alles vorhanden ist, das aber erst während der Entwicklung immer deutlicher wird.

Nicht die Ausbildung und Summierung isolierter Fähigkeiten, die sich mit etwas Glück und Zeit schon zum Ganzen fügen werden, stehen am Anfang der Ausbildung am Instrument (wenn es auch sinnvoll ist, sie zeitweise in den Fokus zu rücken), sondern die Idee des Ganzen, sei es nun ein Kinderstückchen oder ein Meisterwerk. Zwar unterscheidet sich die Methodik des Anfangsunterrichts von der der hohen Kunst in ihrer individuellen Ausprägung durchaus – höhere Gewichtung von sinnlichen Elementen (fantasievollere Sprache, Bilder, Gesten, Singen und Bewegung) am Anfang, höhere Bedeutung von Wort und intelligenter Analyse bei den fortgeschrittenen SchülerInnen –, doch sind die Grundbedin­gungen dieselben und die Verbindungen vielfältig.
Ein Qualitätsbegriff für beide Bereiche kommt ohne den ständigen Austausch, ohne fruchtbare Vor- wie Rückschau nicht zustande. Ein bunter, aktionsreicher, aber sinn- und zielloser Anfangsunterricht ist ebenso zu hinterfragen wie eine in Ritualen erstarrte, autoritäre, methodisch blasse „Meisterlehre“. Es lohnt also, einerseits schon im Anfangsunterricht hohe künstlerische Maßstäbe anzulegen, andererseits im Unterricht mit Fortgeschrittenen den Blick auf das Elementare nicht zu verlieren. Was ist damit im Einzelnen gemeint? Welches sind die „Links“, die verbindenden Prinzipien beider Bereiche?

Improvisation

Versteht man Improvisation nicht als fünf­minütige unverbindliche Pflichtübung, die ­lediglich die Modernität des eigenen Unterrichts belegt, so ist sie eine geistige und künstlerische Haltung, die den lebendigen Instrumen­talunterricht aller Alters- und Leistungsstufen durchdringt. Die Sicht auf komponiertes Material als etwas Flüssiges, Veränderbares, die Freude an der Variation, die Lust am Spiel mit dem eigenen Körper, dem Instrument, der Musik, mit der eigenen Persönlichkeit und der Person des anderen (im Rollen- und Ensemblespiel) prägen das Wesen des Elementarunterrichts und machen den Unterricht mit fortgeschrittenen SchülerInnen reich, individuell und persönlich bedeutend. Aus den kleinen Erfindungen des Anfangs entwickeln sich improvisatorische Ideen und Formen bei den Jugendlichen, die nicht zuletzt auch einer kreativen Technik und dem Literaturspiel zugutekommen:
Aus der Erfindung einer Drei-Ton-Melodie auf den schwarzen „Drillingstasten“ in der ersten Klavierstunde wird später die pentatonische Improvisation zur Vorbereitung eines impressionistischen Stücks von Debussy.
Der Dialog mit anderen Spielern oder mit sich selbst, in Echo-, Frage-Antwort-Spielen und Kanons, führt in seiner Vollendung zur Bach’schen Polyfonie.
Die musikalische Darstellung eines Tieres (Elefant, Maus, Schnecke, Schmetterling), einer Märchenfigur (Riese, Zwerg, Rumpelstilzchen, Prinzessin auf der Erbse) im Anfangsunterricht, die vom Kind genaues Hinschauen, Hinhören, Einfühlen in Aussehen, Stimme, Bewegung erfordert, findet ihre Entsprechung in der Vertonung eines Gemäldes im Unterricht mit Fortgeschrittenen, in der improvisatorischen Begleitung einer Vernissage durch Studierende. Mehr noch: Ein Tier, einen Menschen, eine Märchenfigur musikalisch darzustellen, bedeutet, deren Wesen zu erfassen. Tempo, Dynamik, Artikulation, Agogik werden als Ausdruckswerte erstmalig erlebt und beschrieben.
Das Singen von Liedern und das Erfinden von Texten (Kinderreimen, einfacher Prosa, Nonsens-Silben) zu Melodien entwickeln das Gefühl für Atmung, Phrasierung, Betonung, Dynamik, emotionale Aussage, ohne das auch keine Interpretation von Meisterwerken gelingt. Wenn wir im Unterricht mit Fortgeschrittenen eine Phrase als „unmusikalisch“ und „leer“ empfinden, wirkt oft das „Aufladen“ mit Sprache, das Unterlegen eines imaginierten Textes wahre Wunder!
Das Erfinden einer Geschichte (Geisterstunde, Zauberlehrling, Am Strand, Bei den Eskimos, Ein Traum…) schafft ein frühes Bewusstsein für Form und Dramatik, für Spannung und Entspannung, Krise und Lösung – Archetypen, die auch das Wesen aller großen Formen bestimmen. Die Kinder erfassen den Tanz- und Sprachcharakter von Musik, die konstruktive Bedeutung von Stille, die witzige oder bestürzende Wirkung eines Trugschlusses oder den bedrohlichen oder lächerlichen Charakter eines Marschs.
Psychologisch-ästhetische Grundmuster, die Kindern intuitiv verständlich sind, bestimmen auch auf höchster Ebene die Qualität einer Interpretation: Die körperliche Vorstellung des Tanzes macht die Interpretation einer Bach-Suite lebendig (der Cellist Yo-Yo Ma arbeitet mit Tänzern). Das Thema einer Mozart-Sonate wird zur sprechenden Opern-Szene. Auch die höchste künstlerische Ebene ist in dem Moment, wo sie wirklich berührt, elementar, weil der Mensch in seinen Bewegungen, Träumen und Gefühlen elementar ist.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 6/2012.