Goebel, Matthias
Einflüsse auf institutionelles musikpädagogisches Handeln
Dargestellt am Beispiel der Geschichte der Musikschule Frankfurt (1860–1885)
Matthias Goebel hat ein ausgezeichnetes Buch vorgelegt, das auf seiner Dissertation beruht und ein wichtiges Kapitel der Musikgeschichte Frankfurts beleuchtet: die Gründung und ersten Jahre der Frankfurter Musikschule. Seiner Untersuchung liegt die Hypothese zugrunde, an der neuen Musikschule entwickelte sich bereits mit Gründung im Jahr 1860 ein musikpädagogisches Denken, das in der Ausdifferenzierung des Ausbildungsangebots zum Ausdruck kam. Goebel sucht, verkürzt gesagt, eine Antwort auf die Frage, welche musikpädagogischen und außerfachlichen Faktoren die Entwicklung eines institutionellen musikpädagogischen Handelns beeinflusst haben respektive beeinflussen.
Fachhistorisch schließt Goebel eine Forschungslücke, sowohl lokalhistorisch als auch überregional. Darüber hinaus geht es ihm um die Bedeutung historischer Forschung für die Gegenwart. Er sieht seine Forschungsarbeit als Reflexionsbeitrag bei der Beschäftigung mit gegenwärtigen musikpädagogischen Herausforderungen. Gewinnbringend sei, so Goebel, historisches Arbeiten stets dann, wenn eine Relevanz für gegenwärtiges und zukünftiges Handeln gegeben ist.
Matthias Goebel hat seine Forschungsarbeit als mikrohistorische Studie angelegt. Er fokussiert sich auf kleine alltägliche Forschungsgegenstände; aus der Betrachtung des Kleinen gewinnt er Aufschlüsse über die Gestalt des Großen. Anhand von fünf Quellentexten schildert er mikrohistorisch die ersten Jahrzehnte der Frankfurter Bildungsinstitution und versteht es, gut lesbar über diese auch musikpädagogisch bewegende Zeit zu berichten.
Zwei Jahre nach einem von der Mozart-Stiftung initiierten und letztlich aus wirtschaftlichen Gründen missglückten Versuch einer Konservatoriumsgründung kam es 1860 zur Gründung der Frankfurter Musikschule. Die Anfänge waren bescheiden: Eine Handvoll Schülerinnen und Schüler erhielt in Privaträumen Unterricht in Gesang, Klavier, Geige, Cello, Orgel und Theorie. Die Lehrkräfte kamen aus der lokalen Musikszene, überregional bekannte Lehrerpersönlichkeiten waren nicht darunter. Die Schülerschaft kam aus dem bürgerlichen Milieu, Kinder aus Arbeiterfamilien hatten offenbar keinen Zugang, der Unterricht wäre vermutlich auch an den Kosten gescheitert, musste sich die Musikschule doch komplett aus dem Schulgeld finanzieren. Von Anfang an sah man, neben dem Erreichen einer gewissen Kunstfertigkeit, die Berufsbefähigung zum Sänger oder zur Klavierlehrerin als Aufgabe an.
Goebels erste Quelle stammt von 1861. Ein Seminarlehrer Kunkel berichtete über die ersten öffentlichen Frankfurter Prüfungen. Sein Urteil fiel durchweg negativ aus, die Resultate seien fachlich ungenügend, die Werkauswahl unangemessen, „Prunksucht und Charlatanerie“ herrsche überall vor, die Abstimmung der Lehrkräfte untereinander sei mangelhaft bis nicht vorhanden.
Im „Staats- und Adreßhandbuch“ aus dem gleichen Jahr, Goebels zweiter Quelle, findet sich manches zu den unterrichteten Werken. Mozart, Händel und Haydn waren Favoriten, man wollte dem allmählichen Verfall des Musikgeschmacks entgegenwirken. Es ging stets um die „gediegene classische Kunstrichtung“, wobei „classisch“ weniger die Epoche als vielmehr die Vorzüglichkeit und Überzeitlichkeit der Kompositionen meinte. Auch Komponisten mit nationalem Hintergrund (die „deutschen“ Meister) wurden gerne als Vertreter einer klassischen Kunstrichtung genannt.
Ab 1866 trat die Stadt Frankfurt für einige Jahre als Geldgeberin auf, ab den siebziger Jahren halfen private Sponsoren. Goebels dritte Quelle von 1870 ist ein dringender Appell des Vorsitzenden der Musikschule Wilhelm Lutz an potenzielle Sponsoren, da die finanziellen Schwierigkeiten groß gewesen sein müssen.
Einen Einschnitt markierte das Jahr 1878. Das Konservatorium (heute noch namhaft als „Dr. Hoch’s Konservatorium“) trat als unmittelbarer Wettbewerber der Musikschule ins musikalische Geschehen ein. Der Leiter der Frankfurter Musikschule Heinrich Henkel bestätigt in einem Zeitungsartikel von 1883, dass das Laienpublikum stärker in den Fokus rückt, die Öffnung hin zu einer „humanistisch-musikalischen Volksbildung“ sichere der Musikschule einen eigenständigen Platz im Frankfurter Musikbetrieb. Henkel spart nicht mit Polemik. Das Konservatorium sei Ausdruck des in Italien und Frankreich herrschenden „Ungeschmacks“, die Musikschule dagegen ein echt deutscher Begriff. Auch gegen die „Dressuranstalt“ und den „Hurra-Patriotismus“ nach dem Krieg 1870/71 wird gewettert. Henkel muss sehr unter der mangelnden Wertschätzung der Musikschule gelitten haben, sicher nicht grundlos, glänzte doch das Konservatorium bereits in frühen Jahren mit großen Namen im Kollegium wie Clara Schumann und Joachim Raff.
Mehrere Jahrzehnte später, im Jahr 1922, lobt Henkels Tochter Sophie die Musikschule als eine „recht gute“ und plädiert für die Ausstellung eines Unterrichtserlaubnisscheins an eine Sängerin, die ihre Ausbildung an der Frankfurter Musikschule absolviert hat. Henkel unterstreicht die Bedeutung der Musikschule, ihr Zweck sei eine „künstlerische Ausbildung in den verschiedenen Zweigen der Tonkunst, sowohl für solche, welche die Musik als Beruf erwählen, als auch für Dilettanten, welche dieselbe als allgemeines Bildungsmittel pflegen“.
Die Gründung der Musikschule Frankfurt schlägt eine musikalische und musikpädagogische Brücke zwischen dem gescheiterten Versuch einer Konservatoriumsgründung und der schließlich erfolgten im Jahre 1878. Neben diesem vor allem lokalhistorisch wichtigen Forschungsergebnis beschreibt Goebel die Erstarkung des Bürgertums als überregional relevant, auch das Entstehen einer regelrechten Bürgerkultur in politisch bewegten Zeiten der sechziger und siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts, die die Gründung einer solchen Bildungsinstitution erleichtert hat. Überzeitlich wichtig dürfte schließlich die wachsende Bedeutung der Frauen auf die Entwicklung des institutionellen Ausbildungswesens, zumal im instrumental- und vokalpädagogischen Bereich, sein. Nicht nur hier sieht Matthias Goebel in seiner ausgezeichneten Publikation viel Raum für weitere Forschungen.
Uwe Sandvoß