© Kateryna Hußing

Süberkrüb, Almuth

Elementare Musikpraxis International

Eine musikpädagogische Zertifizierungsmaßnahme für zugewanderte MusikerInnen und MusikpädagogInnen

Rubrik: musikschule )) DIREKT
erschienen in: üben & musizieren 6/2019 , musikschule )) DIREKT, Seite 02

Die Zertifizierung „Elementare Musik­praxis International“ richtet sich an zugewanderte MusikerInnen und MusikpädagogInnen mit einem ersten Ab­schluss in einem Nicht-EU-Staat. Bei dieser einjährigen Weiterbildungs­maßnahme des Fachbereichs Elementare Musikpädagogik der Hochschule für Musik und Theater Hamburg werden die Teilnehmenden gemeinsam mit ErzieherInnen für die musikalische Arbeit in Kindertagesstätten weitergebildet.

1. Das Projekt

Das Qualifizierungsprojekt „Elementare Musikpraxis International“ (EMI) knüpft als Weiterentwicklung an das Projekt „International Music Education“ (IME)1 an, welches die Förderung interkultureller sozialer Kompetenzen in Kombination mit individueller musikalischer und sprachlicher Entwicklung in den Mittelpunkt stellt – Aspekte, die Lebensentwürfe von Menschen entscheidend mitprägen.
Im Zentrum der Neuausrichtung steht das Ziel, zugewanderten MusikerInnen und Mu­sikpädagogInnen, die einen Abschluss außerhalb der EU erworben haben, bessere Chancen auf dem deutschen Arbeitsmarkt zu eröffnen. Da diese Abschlüsse in den meisten Fällen nicht deckungsgleich mit deutschen sind, können die Betroffenen häufig ihre Expertise nicht vollständig in den hiesigen Arbeitsmarkt einbringen und haben in Deutschland in der Regel keine Möglichkeit einer Existenzsicherung in ihrem angestammten Berufsfeld.
Die Zertifizierungsmaßnahme der Hochschule für Musik und Theater Hamburg legt ihren Schwerpunkt auf die musikalische Arbeit im Kita-Alltag. Ziel ist es, den MusikerInnen und MusikpädagogInnen ­didaktisches und methodisches Wissen für diese Altersgruppe zu vermitteln, sie eigene musikalische und musikpädagogische Erfahrungen mit der Weiterbildungsgruppe machen und die neuen Erkenntnisse im Laufe der einjährigen Weiterbildung kontinuierlich in einer Kita (mit Supervision) erproben zu lassen.
Nach erfolgreichem Abschluss der Zertifizierungsmaßnahme können die Teilnehme­rInnen für den musikpädagogischen Teilbereich des Weiterbildungsangebots Kompetenzen auf dem Niveau einer deutschen Musikhochschule nachweisen. Es besteht die Hoffnung, dass sie hierdurch auf dem deutschen Arbeitsmarkt leichter Fuß fassen können, zumal es sich um einen Teilbereich handelt, in dem dauerhafter Mangel an fachlich qualifizierten MitarbeiterInnen besteht.

2. Struktur und Beteiligte

Die Weiterbildungsseminare finden über ein Jahr verteilt geblockt an fünf Wochenenden und in zwei Intensivwochen (insgesamt 160 Stunden) an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg statt. Sie werden durch ein musikalisches Praxisprojekt in einer Kita begleitet und mit einem Zertifikat abgeschlossen.2
Vor Beginn der Zertifizierungsmaßnahme wurden Tandems von je einem Musiker bzw. einer Musikerin und einem Erzieher bzw. einer Erzieherin zusammengestellt, die gemeinsam weitergebildet werden und im Laufe eines Jahres an 20 Tagen zusammen in der Kita musikalisch arbeiten. Die Tandembildung ist von zentraler Bedeutung für das Projekt, da wir uns hierdurch Synergieeffekte erhoffen, indem die TeilnehmerInnen ihre jeweiligen Stärken einbringen und Schwächen durch die Tandemarbeit kompensiert werden können. Die PartnerInnen werden in ihrem Teamgeist gestärkt, sie erleben Verantwortlichkeit für- und Verbundenheit miteinander und entwickeln gemeinsame Ideen mit Blick auf „ihre Kita“.

MusikerInnen
Die Auswahl der MusikerInnen erfolgte durch eine Aufnahmeprüfung, bei der unter anderem die Entwicklungsfähigkeit der Bewegungskompetenz und der Singstimme getestet wurde: In Form einer Gruppenprüfung wurden Voraussetzungen im Bewegungsbereich und auch rhythmische und tonale Basiskompetenzen getestet. In einer Einzelprüfung sangen die KandidatInnen ein deutsches Kinderlied und eines aus ihrem Herkunftsland auf einer für Kinder angemessenen Tonhöhe und spielten auf ihrem Hauptfachinstrument eine Komposition, die sie für die Arbeit mit Kita-Kindern für geeignet hielten.
Die für das Projekt ausgewählten MusikerInnen sind – trotz sehr unterschiedlicher soziokultureller Hintergründe durch ihre jeweilige Herkunft – auf einem ähnlich hohen musikalischen Niveau, wodurch von Anfang an musikalisch kreativ gearbeitet werden kann. Sie erleben im Rahmen des Projekts, dass sie ihre Expertise im hiesigen Arbeitsmarkt einbringen können und erfahren im alltäglichen Leben, welche sozialen und fachlichen Integrationsmöglichkeiten sich über ihre musikalischen Kompetenzen ergeben können.

Kitas
Um dem Projekt ein zweites Standbein zu geben, war es ein Anliegen, mit einem Kita-Träger zusammenzuarbeiten, der bun­desweit agiert und bereit ist, mehrere Kitaleitungen und ErzieherInnen für dieses Projekt zu begeistern. So können für alle beteiligten Kitas und für die Tandems jeweils vergleichbare Bedingungen und Voraussetzungen angeboten werden. Mit Frö­bel Bildung und Erziehung e. V. konnten wir einen solchen Partner gewinnen. So wird z. B. abgesichert, dass auch in personellen Not­zeiten die ErzieherInnen an den Fortbildungstagen nicht als Notanker in der Kita verpflichtet, sondern der Kita anderweitig Ersatzkräfte zugewiesen werden. Dies bedeutet für das Projekt, dass die TeilnehmerInnen an allen Weiterbildungstagen anwesend sein können und Engpässe durch den Träger aufgefangen werden.
Den Kitas wird mit dem Projekt die Möglichkeit eröffnet, Musik in ihrer Vielfalt und als sozial verbindendes Element selbstverständlich in den Alltag zu integ­rieren. Dabei erleben die Kinder das musikalische Angebot niederschwellig durch eine ihnen bereits vertraute Person, die in den bekannten Alltag hinein eine weitere, den Kindern zunächst fremde Person mitbringt, die für alle eine musikalische Bereicherung ist.

ErzieherInnen
Für die ErzieherInnen erhoffen wir uns durch viel Singen und musikalisches Gestalten eine Entfaltung ihrer schlummernden musikalischen Potenziale und eine Weiterentwicklung ihres grundlegenden Musikverständnisses sowie eine Reflexion des eigenen musikalischen Werdegangs, so­dass sie selbstbewusster den Kita-Alltag mit den Kindern musikalisch erleben und gestalten können. Sie erhalten nach erfolgreich absolvierter musikpädagogischer Qualifizierung durch ihren Arbeitgeber Fröbel eine Höhereinstufung und durch die Hochschule für Musik und Theater einen Weiterbildungsnachweis über sämt­liche absolvierten Projektteile.

3. Inhalte und Vorgehensweisen

Für die Umsetzung des Projekts braucht es ein musikpädagogisches Konzept, das offen genug ist, um die unterschiedlichen Vorerfahrungen, Bedürfnisse und Kompetenzen der TeilnehmerInnen aufzugreifen, und gleichzeitig ein niederschwelliges Angebot in den Kitas ermöglicht. Diese Erwartungen sehen wir beim audiationsbasierten Musiklernen nach Edwin E. Gordon3 bei Verwendung internationalen Mu­sikguts (z. B. in Form von Kinderliedern) erfüllt. Von den Vorteilen des audiationsbasierten Musiklernens für das Projekt seien an dieser Stelle zwei genannt: Gordons Ansatz geht in der musikalischen Bildung vom Hören und Erleben eines möglichst variantenreichen Repertoires aus und bietet damit gute Möglichkeiten, unterschied­liche Musikstile und Musiktraditionen in diese Arbeit miteinzubeziehen. Zwar entwickelte Gordon seine Music Learning Theory ausgehend von seinem eigenen Erfahrungshintergrund als Musiker bzw. Musikpädagoge mit klassischer Musik und Jazz, doch bedeutet dies nicht, dass die Anwendung allein im Sinne eines solchen Musikbegriffs möglich bzw. gewünscht ist. Vielmehr äußerte er stets seine Hoffnung, dass eine Öffnung und Weiterentwicklung mit Blick auf andere musikalische Stile und Musiktraditionen erfolgen möge.
Da die Vermittlungsweisen beim audia­tionsbasierten Musiklernen mit denen des Erlernens der Muttersprache vergleichbar sind, bieten sich diverse Möglichkeiten, Musik im alltäglichen Leben der Kita einen Platz finden und lebendig werden zu lassen.4

4. Aktueller Stand und Zukunftsvisionen

Bei der Entwicklung des Weiterbildungsformats waren uns folgende Aspekte besonders wichtig:
– Die am Projekt beteiligten zugewanderten MusikerInnen erhalten theoretische und praktische Einblicke in das deutsche Bildungssystem und in musikalische Vermittlungswege in der Kita. So sollen ihnen Chan­cen eröffnet werden, ihre Expertise in den deutschen Arbeitsmarkt einbringen und ihren Lebensunterhalt sichern zu können.
– Sie sollen dabei ohne die Prämisse einer von Fremdzuschreibungen geprägten Erwartungshaltung, sondern vielmehr mit ih­ren tatsächlichen individuellen Vorerfahrungen, Prägungen und Fähigkeiten wahr- und ernst genommen werden.
– Die individuellen Erfahrungen sollen (bei­spielsweise in Form von Liedgut, charakteristischen Kompositionen, Instrumenten etc.) in das Projekt einfließen dürfen und so die Internationalität des Projekts „von innen heraus“ und möglichst authentisch ermöglichen.
– Die ErzieherInnen sollen die Chance zu fundierter musikalischer Weiterbildung erhalten. Der Lernprozess erfolgt hierbei in Anlehnung an das Lernen der Muttersprache, was den ErzieherInnen aus alltäglichen Kontexten vertraut ist. Gleichzeitig erhoffen wir uns für sie durch die musikalische Unterstützung der MusikerInnen eine mutigere Umsetzung des Erlernten im Kita-Alltag.
– Die Lernkontexte sollen dabei von gegenseitigem Vertrauen und respekt- und liebevollem Umgang geprägt sein, damit in entspannter Atmosphäre musikalische Lernentwicklung wachsen darf.
– Alle WeiterbildungsteilnehmerInnen, die Kita-Kinder und weitere in den Kitas betroffene Personen erleben Musik als alltäglichen Bestandteil ihres Kita-Tages und in ihrer Unterschiedlichkeit als verbindendes Element. Sie erleben Musik dabei im konkreten, im unmittelbaren Lebenszusammenhang, beim gemeinsamen Essen, Ausruhen, Anziehen, beim Ausflüge machen und Feste feiern.
– Die beteiligten Kitas profitieren von der Steigerung der Bildungsqualität in ihren Einrichtungen. Dabei wird versucht, der kulturellen Vielfalt der Kitas mit Kindern unterschiedlicher Herkunftsländer musikalisch gerecht zu werden.
– Die Vorerfahrungen der TeilnehmerInnen sollen musikpädagogische Arbeit auf einem Niveau ermöglichen, welches die Vergabe eines Hochschulzertifikats für die MusikerInnen und einer Weiterbildungsbescheinigung für die ErzieherInnen recht­fertigt. Die Lehrweise soll den unterschiedlichen Voraussetzungen der Teilneh­mergruppen angepasst sein und sie auf ihrem jeweiligen Stand abholen und fördern.

So bleibt die Hoffnung, dass alle Beteiligten die Chance haben, das Fremde des Gegenübers persönlich in individuellen Beziehungen und Erlebnissen zu erfahren und damit die Spannung zwischen Fremdem und Vertrautem in diesen Begegnungen zu erleben, auszuhalten und sich so weiterzuentwickeln. Möge sich dabei mit Musik und in Musik verstehen lassen, dass Vielfalt ein Geschenk sein kann, wenn wir uns darauf einlassen und dabei das Eigene schätzen und lieben und gleichzeitig das Fremde annehmen, verstehen und lieben lernen.

1 weitere Informationen unter www.hfmt-hamburg.de/innovative-hochschule/int-music-education (Stand: 22.10.2019). Ein Bericht über das Projekt findet sich auch unter Almuth Süberkrüb: „Musikalische Annäherungen“, in: Ronald Grätz/ Christian Höppner (Hg.): Musik öffnet Welten. Zur Gestaltung internationaler Kulturbeziehungen, Göttingen 2019.
2 weitere Informationen unter www.hfmt-hamburg.de/fileadmin/u/flyer/EMI_2019.pdf (Stand: 22.10.2019).
3 für nähere Informationen vgl. Edwin E. Gordon: Learning Sequences in Music. Skill, Content, and Patterns, Chicago 1980 (51997); Almuth Süberkrüb: Music Learning Theory. Edwin E. Gordons Theorie des Musiklernens. Zusammenfassung der Kerngedanken in deutscher Sprache, Saarbrücken 2014; Almuth Süberkrüb/Jeanne Kompare-Zecher: Cantabilé e Mobile. Musik erleben von Anfang an, Marburg 2010.
4 für weitere theoretische Informationen sei ver­wiesen auf Edwin E. Gordon: A Music Learning Theory for Newborn and Young Children, Chicago 1990; für exemplarische Erklärungen mit Videobeispielen in deutscher Sprache siehe Almuth Süberkrüb: „Systematische Hörentwicklung in Eltern-Kind-Gruppen, an natürlichen Lernweisen orientiert“, in: Michael Dartsch (Hg.): Eltern-Kind-Gruppen an Musikschulen. Grundlagen, Materialien, Unterrichtsgestaltung, Bonn 2008, S. 79-84.