Wolf, Wiebke

Erfolgreich scheitern

Zur Bedeutung von Resilienz in Musikwettbewerben am Beispiel von „Jugend musiziert“

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 4/2022 , Seite 18

Eine Teilnahme bei „Jugend musiziert“ kann die Freude und Lust am Musizieren verstärken – sie kann sie im schlimmsten Fall aber auch abtöten. Wie lassen sich die Erkenntnisse der Resilienzforschung nutzen, um zu verhindern, dass die Bewertung im Wettbewerb negative Konsequenzen nach sich zieht?

„,Jugend musiziert‘ ist Katalysator, Beschleuniger, ist Doping, ‚Jugend musiziert‘ erschließt Energie, Motivation, Reserven, zusätzliche Förderung. ,Jugend musiziert‘ ist ein Spiel mit dem Feuer, kann wie Feuer Leben stiften oder zerstören. Wer aber mit Feuer spielt, sollte es beherrschen, nicht nur in Kunst und Pädagogik.“1
Die Worte Ulrich Rademachers, des Vorsitzenden des Projektbeirats von „Jugend musiziert“, beschreiben die zwei Seiten, die eine Teilnahme am Wettbewerb haben kann: auf der einen Seite ein willkommener Motiva­tionsschub, erhöhte Konzentration und Fokussierung, Spaß sich mit Gleichaltrigen zu messen; und auf der anderen Seite die Gewissheit, dass ein Wettbewerb neben Gewinnern stets Verlierer produziert und damit auch die Möglichkeit besteht, dass einige Teilnehmende in eine krisenhafte Situation versetzt werden. Auch wenn der Wettbewerb seit 1964 ein Leuchtturmprojekt für die instrumentalpädagogische Landschaft Deutschlands darstellt, an dem seit Bestehen knapp eine Million Kinder und Jugendliche teilgenommen haben,2 so besteht doch die Gefahr, dass er von einigen Teilnehmenden eher als Belastung erlebt wird:3 sei es durch eine von starkem Leistungsdruck geprägte Vorbereitungszeit, Auftrittsängste, ein nicht zufriedenstellendes oder erst gar nicht stattfindendes Beratungsgespräch oder eine Platzierung, die nicht den eigenen Erwartungen entspricht. Die Möglichkeit des Scheiterns ist immer Teil eines Wettbewerbs.
Unter den Beratungsgesprächen eines Landeswettbewerbs, die ich derzeit empirisch untersuche, findet sich ein Fall, in dem es zu einer potenziell krisenhaften Situation kam, weil der Teilnehmer im Vergleich zu den anderen seiner Altersgruppe deutlich weniger Punkte erhielt. Beim Beratungsgespräch, welches im Anschluss von der Jury mit ihm geführt wurde, fällt auf, dass die JurorInnen auffällig oft betonten, dass dies nur ein Ausgangspunkt für das weitere Musizieren sei: „Jetzt geht’s ja weiter. Du spielst ja weiter Geige.“ Hier liegt der Schluss nahe, dass verhindert werden soll, dass ein Scheitern im Wettbewerb einen negativen Einfluss auf die weitere Musizierkarriere des Teilnehmers hat.
Auch wenn keine Daten erhoben wurden, wie der Schüler seine Teilnahme am Wettbewerb erlebt hat oder welchen Einfluss dieses Erlebnis auf sein weiteres Musizieren hatte, könnte die Reaktion zwischen folgenden zwei Polen liegen: Er verarbeitet dieses Erlebnis produktiv und nutzt das Feedback aus dem Beratungsgespräch, um weiter an seiner Musizierfähigkeit zu arbeiten; oder aber er erlebt die Situation als so gravierend, dass sie ihn dazu bewegt, den Unterricht abzubrechen und das Musizieren aufzugeben.
Welches Szenario eintritt, hängt – so die diesen Beitrag leitende These – in entscheidendem Maß von der Resilienz des Teilnehmenden ab. Im Folgenden wird ein Blick auf das Phänomen der Resilienz in Bezug auf den Wettbewerb „Jugend musiziert“ geworfen und es werden Ideen generiert, wie die Resilienz der Teilnehmenden gestärkt werden kann, damit auch ein „erfolgreiches Scheitern“ bei „Jugend musiziert“ möglich ist.

Notwendigkeit von Resilienz bei „Jugend musiziert“

Definitionen des Begriffs der Resilienz finden sich in unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen, z. B. in den Ingenieurswissenschaften, der Ökologie und Psychologie.4 Vom englischen „resilience“ abstammend, bedeutet der Begriff „Spannkraft, Widerstandsfähigkeit und Elastizität“5 und umschreibt die menschliche Widerstandsfähigkeit gegenüber belastenden Lebensumständen.6 Für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ist insbesondere eine entwicklungspsychologische Perspektive auf das Phänomen bedeutsam: Dort beschreibt Resilienz einen „dynamischen oder kompensatorischen Prozess positiver Anpassung bei ungünstigen Entwicklungsbedingungen und dem Auftreten von Belastungsfaktoren“7 oder auch „die Kompetenz, sich jeden Tag mit den Anforderungen und Notwendigkeiten des Lebens auseinanderzusetzen, mit ihnen fertig zu werden und diese zu bewältigen“.8
Da Resilienz also immer dann notwendig wird, wenn es sich um eine belastende oder ungünstige Entwicklungsbedingung handelt, ist erst einmal zu klären, was genau denn die Belastung für die Kinder und Jugendlichen, die bei „Jugend musiziert“ teilnehmen, ausmacht. Auch wenn es sich bei einer als krisenhaft empfundenen Teilnahme an einem Musikwettbewerb nicht um eine ungünstige Entwicklungsbedingung im eigentlichen Sinne der Resilienzforschung handelt, von der eine potenzielle Gefährdung der gesunden Entwicklung des Kindes ausgeht,9 so können die Forschungsergebnisse zu resilientem Verhalten doch auch auf dieses für die Teilnehmenden oft als sehr bedeutsam empfundene Erlebnis übertragen werden. Hier lassen sich zwei Momente ausmachen, die von Teilnehmenden als krisenhaft empfunden werden bzw. Resilienz erfordern können:
1. Unabhängig vom erreichten Ergebnis kann bereits die Wettbewerbssituation als solche als belastend empfunden werden. Hier spielen überhöhter Leistungsdruck, Versagensängste, Auftrittsängste etc. eine Rolle.10
2. Das erreichte Ergebnis entspricht nicht den Erwartungen, mit denen der oder die Teilnehmende in den Wettbewerb gegangen ist, sodass die Teilnahme subjektiv als Misserfolg empfunden wird und dazu herausfordert, diesen Rückschlag zu verarbeiten.
Im Folgenden soll vor allem der zweite Fall in den Fokus gerückt und überlegt werden, wie die Resilienz der Teilnehmenden gestärkt werden kann, um mit einem unerwarteten Ergebnis besser umgehen zu können.

1 Rademacher, Ulrich: „Erfolgversprechend oder Spiel mit dem Feuer? Singen bei ,Jugend musiziert‘“, in: neue Musikzeitung, 64. Jg., 2015, Ausgabe 4, www.nmz.de/ artikel/erfolg-versprechend-oder-spiel-mit-feuer (Stand: 8.5.2022).
2 vgl. www.jugend-musiziert.org (Stand: 8.5.2022).
3 vgl. Gembris, Heiner/Menze, Jonas/Heye, Andreas/ Herbst, Sebastian: Ehemalige Teilnehmende am Wettbewerb „Jugend musiziert“ und ihre Lebenswege. Eine Studie zu den (Nach-)Wirkungen musikalischer Bildung, Münster 2020, S. 62 f.
4 vgl. Masten, Ann S.: Resilienz: Modelle, Fakten & Neurobiologie, Paderborn 2016, S. 26.
5 Fröhlich-Gildhoff, Klaus/Rönnau-Böse, Maike: Resilienz, München 2015, S. 9.
6 vgl. Gabriel, Thomas: „Resilienz – Kritik und Perspektiven“, in: Zeitschrift für Pädagogik, 51. Jg., 2005, Heft 2, S. 207-217, hier: S. 207.
7 Ball, Juliane/Peters, Sabine: „Stressbezogene Risiko- und Schutzfaktoren“, in: Seiffge-Krenke, Inge/Lohaus, Arnold (Hg.): Stress und Stressbewältigung im Kindes- und Jugendalter, Göttingen 2007, S. 126-143, hier: S. 127.
8 Brooks, Robert/Goldstein, Sam: Das Resilienz-Buch. Wie Eltern ihre Kinder fürs Leben stärken, Stuttgart 22007, S. 21.
9 Wie die sogenannten Risikofaktoren, die die Resilienzforschung ermitteln konnte, wie z. B. chronische Erkrankungen, niedriger sozioökonomischer Status, Abwesenheit eines Elternteils (vgl. Fröhlich-Gildhoff/Rönnau-Böse, S. 21 ff.).
10 vgl. Gembris/Menze/Heye/Herbst, S. 62 f.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 4/2022.