Mahlert, Ulrich
Erfülltes Leben
Reinhart von Gutzeit zum Gedenken
Wir wussten seit einiger Zeit, dass er nicht mehr lange leben würde. Nun, da Reinhart von Gutzeit uns verlassen hat, werden wir uns noch mehr als zuvor bewusst, was wir an ihm hatten.
Was alles hat Reinhart von Gutzeit in seinem Leben geleistet! Die Vielfalt seiner Tätigkeiten lässt staunen und verdient Bewunderung. Sein Wirken für üben & musizieren bildet nur einen verhältnismäßig kleinen Teil seiner Aktivitäten. Umso mehr haben die Mitgestalter und die Leserschaft Grund, ihm dankbar zu sein für die langjährige intensive Arbeit, mit der er unsere Zeitschrift vorangebracht hat. üben & musizieren war ihm von Anfang an bis zu seinem Abschied als Mitherausgeber eine musikpädagogische Herzensangelegenheit. Auch zu Zeiten, in denen seine hauptberuflichen und seine vielen weiteren Aufgaben ihn oft rund um die Uhr forderten, ließ sein Engagement für die Zeitschrift nicht nach.
Reinhart von Gutzeit hat die weite Landschaft der Musikpädagogik in Deutschland und Österreich durchmessen. Er begann als Schüler an einer Musikschule, war schließlich Rektor einer großen Musikuniversität. Wie vollzog sich dieser Weg?
Überzeugter Musikschulmann
Geboren wurde er am 18. Februar 1947 in Berlin. Seinen ersten Unterricht auf der Violine erhielt er an der Jugendmusikschule (seit 1983 Clara-Schumann-Musikschule) in Düsseldorf. Hier erwachte seine Liebe zum musikalischen Organismus Musikschule. Von Anfang an wichtig waren ihm deren Potenziale für eine breit gefächerte, besonders die Vielfalt von Ensemblearbeit kultivierende musikalische Aktivierung von Kindern, Jugendlichen und auch von Erwachsenen. Sich selbst bezeichnete er 2011 rückschauend als „in der Wolle gefärbten Musikschulmann“. Aus Leidenschaft, aber auch zur Finanzierung seiner Studien (Schulmusik und Germanistik), die er in Köln, Düsseldorf und Freiburg absolvierte, gab er vom ersten bis zum letzten Semester Violinunterricht an der Musikschule Meerbusch. Über Berta Volmer, seine Lehrerin für Violine und Viola, war er Enkelschüler von deren legendärem Lehrer Carl Flesch. Etliche seiner Schüler und Schülerinnen, darunter die Geigerin Petra Müllejans, wurden Profis und äußerten sich begeistert über Reinharts Unterricht.
Viele Fähigkeiten erwarb er sich als Autodidakt. Ein braves planmäßiges Studium war nicht seine Sache. Er schwänzte die lebensfern aufgezogenen Pädagogikfächer und andere ihm wenig nützliche Veranstaltungen. Lieber leitete er den ASTA und engagierte sich hochschulpolitisch. Mit Fantasie und beträchtlichem „Lästigkeitswert“ in Gremien und gegenüber säumigen Personen sorgte er mit für den Neubau der Kölner Musikhochschule.
Leitungsfunktionen reizten ihn früh: An seinem Gymnasium wirkte er als Schulsprecher. Nach dem Studium folgten alsbald erste Erfahrungen und Erfolge als Leiter der soeben gegründeten Musikschule Rheinbach. 1979 übernahm er dann die Leitung der großen Musikschule Bochum mit ihren damals etwa 8000 Schülerinnen und Schülern. Hier wirbelte er mit vielen Ideen und Aktivitäten in diversen musikalischen Biotopen, die an einer solch großen Institution bei Offenheit, Neugier und Lernwille von Leitung und Kollegium gedeihen können. Er kümmerte sich um Unterricht in diversen Genres, Konzerte und Opernaufführungen, Projekte, neue Modellversuche, Kooperationen mit dem Schauspielhaus unter Claus Peymann, mit verschiedenen Bildungseinrichtungen und sozialen Institutionen.
Kommunikativer Teamplayer
Mit seinem integrativen, niemals rigiden Führungsstil erwarb er sich schnell das Vertrauen des Kollegiums. Lehrkräfte arbeiteten gern mit ihm – und nicht etwa unter ihm: Letzteres widersprach seinem Selbstverständnis. Er war ein kommunikativer Teamplayer. Gewiss verstand er es, Menschen für seine Ideen zu begeistern. Dabei half ihm seine wohlklingende, stets ohne Anstrengung auskommende Stimme, um die ich ihn oft beneidete. Er redete gern und ließ sich Zeit dabei. Aber ebenso konnte er aufmerksam zuhören und Gedanken anderer aufnehmen, auch wenn sie nicht immer auf seiner Linie lagen. „Ich will dich verstehen und dir Raum geben für das, was du einbringen möchtest“, war die unterschwellige, Menschen ermutigende Botschaft in seiner Kommunikation.
Als entkrampfende Ingredienz kam sein wohltuender Humor hinzu, mit dem er manche Verhärtung aufbrach. Da merkte man, dass er sich selbst nicht allzu wichtig nahm und eigene Standpunkte relativieren konnte. Oft habe ich bewundert, wie er nach kontroversen Diskussionen (in denen er meist der beste, konzentrierteste, unerschütterlich Ruhe bewahrende Zuhörer war) integrative Vorschläge entwickelte, in denen die Verteidiger zuvor aufeinanderprallender und einander scheinbar ausschließender Auffassungen sich mit ihren Anliegen wiederfanden und zufrieden zustimmten.
Als Musikschulchef war Reinhart von Gutzeit ein hervorragender Organisator und Manager. Aber er beschränkte sich nicht auf Verwaltungsaufgaben, wie es in einer solch anspruchsvollen Führungsrolle leicht geschieht, sondern blieb weiterhin pädagogisch und künstlerisch aktiv. Damit verkörperte er ein Ideal von Musikschulleitung. Er fungierte als Ensembleleiter, nicht als direktiver Tonangeber. Obwohl er niemals Dirigierunterricht hatte, dirigierte er Kammerorchester, die alle ein für Musikschulstandards hervorragendes Niveau erreichten. Und er inszenierte an seiner Musikschule spannend dargebotene Opern, ohne je Regie gelernt zu haben.
Musikschulischer Inspirator
In Bochum wie auch schon in Rheinbach kultivierte Reinhart von Gutzeit eine Fähigkeit, die ihm in all seinen Führungsaufgaben half, erfolgreich zu sein: Er suchte frühzeitig Kontakte zu maßgeblichen Politikern und gewann schnell ihr Vertrauen, ja zum Teil ihre Freundschaft. Das war keine Beziehungskungelei, sondern gezieltes Werben für öffentliche Unterstützung von musikalischer Bildung und Kultur.
Kein Wunder, dass er über die Musikschule Bochum hinaus ein geschätzter musikschulischer Inspirator wurde. Frühzeitig engagierte er sich im Vorstand des Verbands deutscher Musikschulen. 1990 trat er die Nachfolge von Diethard Wucher als Verbandsvorsitzender an. Sechs Jahre lang stand er dem VdM vor. Dabei hob er nicht in eine Funktionärswelt ab, sondern behielt engen Kontakt zur Basis. Er wusste, dass Musikschulen als kommunale Einrichtungen individuelle Ausgestaltungen vor Ort brauchen und förderte diese wünschenswerte Pluralität.
Nach der deutschen Wiedervereinigung 1989 stellte sich alsbald die Aufgabe, die beiden Musikschulsysteme der alten Bundesrepublik und der ehemaligen DDR zusammenzubringen. Dies gelang durch das intensive und vertrauensvolle Zusammenwirken von Reinhart von Gutzeit und Ulrich Marckardt, dem Leiter der Musikschule Prenzlauer Berg in Berlin, der das Musikschulwesen der DDR vertrat und ebenso wie sein Partner um umsichtige Integration bemüht war. Nicht zuletzt durch die ab 1989 sich bildenden vielen binnendeutschen Kontakte auf Musikschulebene mit intensivem Austausch unter Leitungspersonen, Lehrenden und Schülern konkretisierte Reinhart von Gutzeit sein bereits im Frühjahr 1989 vorgestelltes Konzept der offenen Musikschule,1 das in den folgenden Jahren ein Fundament für die Vielgestaltigkeit der Musikschularbeit in Deutschland wurde.
Er plädierte für die „Öffnungen der Musikschule – gegenüber Schülergruppen, an die früher nicht unbedingt gedacht wurde (wie Behinderte oder in Zukunft Erwachsene und Senioren); gegenüber musikalischen Stilen, die nicht a priori an der Musikschule heimisch sind; gegenüber anderen künstlerischen Sparten, vor allem dem Tanz und dem darstellenden Spiel; gegenüber Nachbarn anderer Nationalität – im Ausland und auch im Inland; gegenüber Partnern wie der allgemeinbildenden Schule und der sogenannten Laienmusik“.2 Inzwischen haben sich mit Begriffen wie Inklusion, Partizipation, Kooperation, inter- und transkulturelle Bildung, Community Music etc. neue Stichworte, Erscheinungsformen und Sprachregelungen gebildet. Die 1989 formulierten Punkte mögen uns inhaltlich selbstverständlich geworden sein – damals waren sie es nicht, sondern standen für eine künstlerisch, pädagogisch und gesellschaftlich innovative Musikschularbeit.
Engagierter Hochschulleiter
Zum ersten Mal begegnete ich Reinhart von Gutzeit 1982 im Verlagshaus Schott in Mainz. An Hochschulen hatte allmählich die Selbstbesinnung der Instrumentalpädagogik gegenüber der etablierten Schulmusikausbildung begonnen. Die Leitung des Schott-Verlags unterstützte diese Entwicklung mit der Gründung einer eigenständigen musizierpädagogischen Zeitschrift: üben & musizieren (in den ersten Jahren beides großgeschrieben und mit dem Untertitel „Zeitschrift für Musikschule, Studium und Berufspraxis“ versehen). Reinhart von Gutzeit wurde vom Verlag ins Boot geholt, mich hatte mein Berliner Kollege und Freund Christoph Richter bei Schott eingeführt. Ab sofort bildeten Reinhart und ich ein Tandem, das in bestem Teamgeist 36 Jahre zusammenhielt – bis 2019, als Reinhart klug erwogen seine Arbeit als Mitherausgeber beendete, um seine Kräfte zu bündeln. Stets haben wir uns konstruktiv, vertrauensvoll und freundschaftlich zugearbeitet, uns über unzählige erbetene und unerbetene Aufsätze ausgetauscht und mit Redaktion und Ständigen Mitarbeitern neue Hefte konzipiert. Ich bin ihm von Herzen dankbar für seine unerschütterliche Fairness und Freundlichkeit.
Sein Interesse an Menschen war die Basis des freundlichen Umgangs, den er mit allen pflegte – vom Minister bis zum Pförtner.
Reinhart war ein sehr treuer Mensch, der sich schwer von Liebgewonnenem trennen konnte. Gleichwohl bewegten ihn sein Tatendrang und seiner Neugier immer wieder dazu, sich neue Aufgabenbereiche zu erschließen. 1995 übernahm er die Leitung des Bruckner-Konservatoriums in Linz. Mit viel Tatkraft und sorgfältig eingeworbener Unterstützung durch die Landespolitik gelang es ihm, diese Institution aufzuwerten und als Anton Bruckner-Privatuniversität zu akkreditieren. Zum Professor für Musikpädagogik und Musikvermittlung bestallt, leitete er sie zwei Jahre lang. 2006 erfolgte dann die Krönung seiner Hochschullaufbahn: Er wurde zum Rektor des traditionsreichen Salzburger Mozarteums gewählt. In seine bis 2014 reichende Amtszeit fallen u. a. die Gründung neuer Institute, die Neuausrichtung bestehender Departements, die Initiierung neuer Veranstaltungsreihen. Unter seiner Regie konnte das Mozarteum seinen weltweiten Ruf als eine der führenden Musik- und Kunstuniversitäten festigen.
Viele weitere Tätigkeiten, die er mit großem Engagement ausübte, kamen hinzu: So fungierte er als Präsidiumsmitglied der Internationalen Stiftung Mozarteum, wirkte von 1996 bis 2024 als Vorsitzender der Jury von „Jugend musiziert“, war aktives Mitglied im Deutschen Musikrat (der ihn mit der Ehrenmitgliedschaft auszeichnete) und in der Europäischen Musikschul-Union, beriet in Universitäts- und Hochschulräten. All diese Aktivitäten nahm er ernst und füllte sie mit Lust und Tatkraft aus. Mit unzähligen Personen hatte er zu tun. Sein Interesse an Menschen war die Basis des freundlichen Umgangs, den er mit allen pflegte – vom Minister bis zum Pförtner. Er nahm jeden als besonderen Menschen wahr.
Viele Ehrungen sind ihm zuteil geworden: darunter das Verdienstkreuz am Bande der Bundesrepublik Deutschland (1997), das Goldene Ehrenzeichen des Landes Oberösterreich (2006), die Carl-Orff-Medaille des Bayerischen Musikschulverbandes (2010) und das Verdienstkreuz 1. Klasse der Bundesrepublik Deutschland (2019).
Nach seinem Abschied von Salzburg zog Reinhart von Gutzeit in die Schweiz nach Meggen bei Luzern. Seine Frau, seine fünf Kinder und seine sechs Enkelkinder halfen ihm dabei, mehr als bisher Muße zu finden. Reinhart wusste, dass er bald sterben würde. Wenige Tage vor seinem Tod am 11. Juli (meinem Geburtstag) durfte ich ihn besuchen. Trotz seiner körperlichen Schwäche wirkte er zuversichtlich. Unser Gespräch war gelöst, ja sogar heiter. Im Kreis seiner treu für ihn sorgenden Familie konnte er in großer Dankbarkeit und auf ein erfülltes Leben zurückblickend gehen.
Nachdem ein Mensch gestorben ist, dürfen wir lernen, auf eine neue Weise mit ihm zu leben. Reinhart von Gutzeit bleibt in unseren Herzen.
1 Reinhart von Gutzeit: „Musikschulen bauen Brücken… Anmerkungen zum Aachener Kongreß und zum Konzept einer ‚offenen‘ Musikschularbeit“, in: üben & musizieren, Heft 3, 1989, S. 151-157.
2 ebd., S. 151.
Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 5/2025.