Ito, Ayako

Erziehung zum Höheren?

Shinichi Suzukis Menschen- und Tonbildung

Rubrik: Forschung
erschienen in: üben & musizieren 6/2022 , Seite 52

Die Suzuki-Methode gehört zu den bekanntesten musikpädagogischen Ansätzen. Ihr Klangbegriff ist ein ­zentrales Thema ihrer Unterrichts­praxis. Was aber bezweckte Shinichi Suzuki über den Musikunterricht ­hinaus mit seiner Klangvorstellung? Dahinter verbirgt sich ein noch wenig diskutiertes Konzept der „Menschen­veredelung“ durch Musik.

„Im Ton [oto] ist Leben – Leben ohne Gestalt.“1 So drückte Shinichi Suzuki, der Begründer der Suzuki-Methode, seinen Klangbegriff aus, wobei er den Ton als beseelt ansieht. Überhaupt besitzt der Klangbegriff in der Suzuki-Methode die höchste Relevanz, sodass die deutsche Suzuki-Lehrerin Kerstin Wartberg feststellt, der Klang sei „das wichtigste Unterrichtsziel“.2 Auch wenn die Arbeit am Klang in der instrumentalen Lehre allgemein wichtig ist, zielte Suzuki in seiner Ton-Lehre auf eine über die reine Spieltechnik hinausgehende Verbesserungsarbeit, in der die Tonqualität und der menschliche Charakter in gegenseitiger Abhängigkeit zu etwas Höherem geformt werden sollen.
Suzuki verwendete für „Klang“ den japanischen Ausdruck oto, der auf Deutsch gewöhnlich als Ton oder Klang übersetzt wird. Der besondere Aspekt der gegenseitigen Entwicklung des oto und der Persönlichkeit wurde von ihm an seine SchülerInnen weitergegeben. Eine dieser SchülerInnen verschriftlichte die Suzuki-Methode als „Menschenbildung durch oto“.3 Auch in meiner Interviewstudie mit in Japan tätigen Suzuki-Lehrenden wurde die reziproke Beeinflussung von oto und Persönlichkeit noch einmal deutlich herausgestellt. So erinnerte sich z. B. eine Suzuki-Lehrerin an eine Aussage Suzukis, dass die Veränderung des oto zugleich sich selbst zu verändern bedeute.4 Interessant ist dabei, dass dieses Konzept eines gegenseitigen ­Optimierungsprozesses in Interviews mit in Deutschland tätigen Suzuki-Lehrenden nicht feststellbar war.5 Dieser Unterschied zeigt nicht nur die internationale Vielfalt der Suzuki-Methode, sondern lässt auch Schwierigkeiten bei der Vermittlung über Kulturräume hinweg vermuten. Um solchen Unterschieden nachzugehen, soll Suzukis spezieller Klangbegriff hier untersucht und seine besondere Wirkung in seiner Lehre herausgestellt werden.

Forschung am „oto“

Suzukis umfassender Erforschung des oto liegen zwei elementare Erfahrungen zugrunde, bei denen es darum ging, die Geigensaiten optimal klingen zu lassen. Zum einen bewog ihn die Begegnung mit dem Geiger Josef Wolfsthal (1899-1931) zu einem Umdenken, als Suzuki ihm 1926 in Berlin eine von seinem Vater Masakichi Suzuki (1859-1944) hergestellte Geige gab. Der von Wolfsthal damit hervorgebrachte Klang überraschte Shinichi Suzuki sehr, denn dieser war verblüffend anders, als er es sich bis dahin hatte vorstellen können. Dieses Ereignis ließ ihn zum festen Glauben gelangen, dass der Klang (oto) primär vom Spielenden und nicht vom Instrument abhänge.6
Zum anderen machte sich Suzuki beim Hören von Aufnahmen von ihm verehrter Geiger wie Fritz Kreisler (1875-1962) die technischen Bedingungen der Erzeugung eines oto bewusst, wonach ein oto nichts anderes als ein physikalisches Ereignis sei, das durch ein Streichen der Saite mit kolophonierten Pferdehaaren erzeugt wird, auch wenn dies von irgendwelchen Genien veranlasst werde.7
Solche Einsichten trieben ihn an, aus dem gehörten oto rückschließend wiederum eine spezielle Spieltechnik zu entwickeln.8 Im Kern seiner grundlegenden Spieltechnik steht der Ansatz, die Saiten in der natürlichsten Weise möglichst frei klingen zu lassen.

1 Suzuki, Shinichi: Ai ni ikiru. Saino¯ wa umare tsuki dewa nai [Leben in der Liebe. Talent ist nicht angeboren], Tokyo 1966, S. 168 f. Übersetzung der Verfasserin. Der deutsche Titel dieser Schrift lautet: Erziehung ist Liebe. Eine neue Erziehungsmethode, Kassel 62011, dort übersetzt als „Der Klang hat Leben und Seele ohne Form“ (S. 104).
2 Wartberg, Kerstin: Erziehung durch Musik. Die Suzuki-Methode. Unterrichtspraxis und pädagogisches Konzept, Sankt Augustin 2010, S. 45.
3 Mori, Yuko: Suzuki meso¯do. Shido¯ 50 nen no kiroku [Die Suzuki-Methode. Dokumente von 50 Jahren Lehre], Selbstverlag 2010, S. 108. Übersetzung der Verfasserin.
4 Aus dem Interview mit Frau Geilej-3 am 10.4.2017, vgl. dazu Ito, Ayako: Die Suzuki-Methode und ihre Genese. Fallstudie zu einem musikpädagogischen Transkulturationsprozess, Siegen 2021, S. 203 f.
5 vgl. ebd., S. 21-24.
6 vgl. Suzuki, Shinichi: „Vaiolin so¯ho¯ kenkyu¯ (8) Yumi wa odorazu“ [Forschungen zur Geigentechnik (8). Der Bogen tanzt nicht], in: Gekkan gakufu, 24 (4), 1935, S. 87.
7 vgl. Suzuki, Shinichi: Aruite kita michi [Mein Weg], ­Tokyo 1960, S. 135.
8 vgl. ebd., S. 136.

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