Krönig, Franz Kasper
Family Sounds of Buchheim
Ästhetisches Erleben in einem familienpädagogischen Musikprojekt
Man steht vor einer Tür, hinter der ein beliebiges Angebot von “Musikalisierung” oder “Musikalischer Grundbildung” stattfindet – vormittags in der Grundschule, am Nachmittag im Ganztag (Band-AG), an der Kita oder in der offenen Kinder- und Jugendarbeit. Was hört man? Wer in diesem Feld über Erfahrung verfügt, wird vieles antworten: Gerede, Krach, Übungen und – ja – vielleicht auch Musik.
Wenn wir von Musik als Kunstform und ästhetischem Medium sprechen, auf das man sich in ästhetischer Haltung einlassen muss, um es überhaupt erst entstehen lassen zu können, dann bekomme ich es nicht mit Musik zu tun, wenn ich nur darauf achte, ob hier dies oder das „richtig“ gemacht wird oder welche Aufschlüsse das, was ich da höre und sehe, auf instrumentalpädagogische Entwicklung gibt. Das Staunen über technische Virtuosität, das Interesse an kunst- oder musikhistorischen Zusammenhängen, die Einfühlung in die Psychologie Werkschaffender oder die religiöse Erbauung im Angesicht eines dann als erhaben verstandenen Werks: In allen Fällen handelt es sich um Einstellungen zum Erlebnisgegenstand, die diesen nicht (voll) als Kunstwerk bzw. als Musikstück entstehen lassen.1
Eine unabdingbare Voraussetzung für das gemeinsame Musikmachen mit Kindern ist, dass man selbst in die Situation gerät, die Musik, die entsteht, ästhetisch auffassen zu können. Das heißt dann, dass man die Musik geschmacklich beurteilt, sie daraufhin betrachtet, ob sie einem gefällt, ob man beim Hören verweilen möchte und dabei in einer Haltung verbleibt, die sich von den technisch, pädagogisch oder wissenschaftlich beurteilenden oder analytischen Haltungen unterscheidet.2 Die Indizien einer ästhetischen Haltung sind in diesem Zusammenhang,
– dass man das Stück mehrfach hören möchte. Man bezieht nicht eine Information, um bei deren wiederholter Mitteilung gelangweilt zu werden. Andererseits ist auch eine gewisse Informationsgewinnung im Spiel. Böte sich gar keine Struktur, die vor dem Hintergrund eigener Vorerfahrung als solche erkennbar wäre (wenigstens rein formal), würde man die Aufmerksamkeit für den Gegenstand nicht aufrechterhalten wollen und können.3
– dass sich ein Erlebnismodus einstellt, der sich nicht auf andere reduzieren oder sich aus diesen ableiten lässt (nicht eine Art von Spiel, nicht eine Art von Wahrnehmung, nicht eine Art von Meditation, nicht eine Art von Exploration im wissenschaftlichen Sinne),
– dass man sich sowohl auf die sinnliche Wahrnehmung einlässt als auch eine kommunikative Absicht unterstellt und dabei Sinn zuschreibt,
– dass sich dieser Sinn nicht übersetzen lässt, beispielsweise sprachlich restlos angebbar wäre, was diese Musik bedeutet,
– dass sich das Erleben schon gar nicht auf einen „Begriff bringen“ lässt,
– dass man bei der Beurteilung des Gehörten nicht den Anspruch erhebt, alle müssten gleichermaßen erleben und empfinden.
In jedem Fall gewinnt ästhetisches Erleben den Eindruck einer Nicht-Beliebigkeit des Erlebten. Hier wird mir nicht nur etwas Bedeutsames mitgeteilt, sondern auch auf ganz besondere Weise, das heißt in einer spezifischen Formgebung.
Den genannten Merkmalen kommt eine entscheidende Rolle zu. Es ist nicht sinnvoll und wohl auch kaum möglich, jeder beliebigen Geräuschumwelt gegenüber eine ästhetische Einstellung einzunehmen und aufrechtzuerhalten. Eine diesbezügliche Beliebigkeit auch in der Reaktion auf musikalisches Tun von Kindern wäre musikpädagogisch kontraproduktiv. Anerkennende Aufmerksamkeit für lust- und sinnloses Plastikbecherknistern oder Papierrascheln muss für Kinder genauso verstörend und irreführend sein wie die Nicht-Wahrnehmung der ganz besonderen Momente, in denen Kindern etwas musikalisch Bedeutungsvolles gelingt.
Natürlich kann ästhetisches Erleben nicht „hergestellt“ werden. Gleichwohl kann man in einer gegebenen Situation (und nur auf diese konkrete Situation bezogen!) musikalische und methodische Entscheidungen daraufhin untersuchen, ob sie eine echte ästhetische Interaktion mit Kindern wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher machen.
1 vgl. Ulrich Wienbruch: „Die Eigenart des Asthetischen Erlebens. Überlegungen zum Problem der Geltung ästhetischer Urteile“, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, 30(1), 1985, S. 23-35.
2 Selbstverständlich ist es in einer ästhetischen Haltung möglich und sogar sehr wahrscheinlich, zu einem negativen ästhetischen Urteil zu gelangen. Man fühlt sich von einer entlarvten Masche, einem Strickmuster abgestoßen, durch pädagogische oder politische Absichten manipuliert, durch zu geringe Komplexität, Tiefe oder Ambivalenz gelangweilt oder durch mangelnde Stimmigkeit betrogen.
3 zum Problem, das dadurch für die sogenannte Avantgarde entstehen kann, vgl. Niklas Luhmann: „Das Medium der Kunst“, in: Oliver Jahraus (Hg.): Niklas Luhmann. Aufsätze und Reden, Stuttgart 2001, S. 198-217.
Lesen Sie weiter in Ausgabe 5/2016.