Hagedorn, Volker

Flammen

Eine europäische Musikerzählung 1900–1918

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Rowohlt, Hamburg 2022
erschienen in: üben & musizieren 4/2022 , Seite 59

Man schreibt das Jahr 1902, der Komponist Franz Schrecker (der später als Franz Schreker bekannt wird) fiebert der Uraufführung seines Werks entgegen. Flammen heißt der Einakter, der nur in kleiner Besetzung aufgeführt wird, und diesen Titel hat sich Volker Hagedorn für sein Buch geliehen. Ein Buch, in dem sich der Autor und Musiker auf einen faszinierenden Streifzug durch das frühe 20. Jahrhundert begibt, durch politisch wie musikalisch unruhige Zeiten, die Hagedorn in einer kraftvollen Erzählung zum Leben erweckt.
Zwei Persönlichkeiten stehen im Mittelpunkt: Da ist einmal der Franzose Claude Debussy, der mit einer neuen Musiksprache für Irritationen sorgt. Sein Orchesterwerk La Mer wird von der Presse zerrissen, kaum jemand versteht Debussys Musik, außer einem jungen Musikologen namens Louis Laloy, der zu einem Vertrauten des Komponisten wird. Hagedorn erzählt von Debussys Ehekrisen, von seinen Reisen, seiner Freundschaft mit Igor Strawinsky, seinem Zerwürfnis mit dem Dichter Maurice Maeterlinck, seinem zwiespältigen Verhältnis zu Maurice Ravel.
Und da ist die kosmopolitische Engländerin Ethel Smyth, die als Komponistin in einem männerdominierten Umfeld um Anerkennung kämpft und sich der militanten englischen Frauenbewegung anschließt. Mit dem March of the Women legt Smyth ein musikalisches Bekenntnis ab, sie ist mit Virginia Woolf und Emmeline Pankhurst befreundet, geht für ihre Überzeugung für zwei Monate ins Gefängnis und lässt ihren Kampf für das Frauenwahlrecht erst nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs ruhen.
Auf den Spuren dieser beiden Charaktere entwirft Volker Hagedorn ein fesselndes musikalisch-politisches Zeitporträt. Er berichtet von Richard Strauss, der mit seiner Salome neue Wege geht, von Arnold Schönberg und Alban Berg, deren Zwölftonmusik heftige Reaktionen provoziert, von Gustav Mahler, der seiner Frau Alma das Komponieren verbietet und seine Eheprob­leme mit Siegmund Freud bespricht. Er erzählt von antisemitischen Strömungen, von der Armut in London und der Wiener „Architektur der sozialen Narkose“, von einem fortschrittsberauschten Paris, wachsenden Kriegsängsten und dem möglichen Zusammenhang zwischen Neuerungen in der Kunst und privaten Krisen: „Vielleicht kann man sagen, dass Bedingungen, die Durchbrüchen in der Kunst günstig sind, auch Ehebrüche inspirieren.“
Geschickt verwebt Hagedorn Fakt und Fiktion und beweist dabei großes musikalisches Verständnis. „Leuchtende Abgründe“ entdeckt er etwa in Franz Schrekers Komposition Flammen, „etwas Kristallines“, eine „Lockerung der tonalen Gravitation“, die jedoch nicht zur Aufweichung führt. Fast 100 Jahre wird es dauern, bevor Flammen so aufgeführt wird, wie Schreker es sich vorstellte. Nicht zuletzt diesem Werk und seinem Schöpfer hat Hagedorn ein wahrlich beeindruckendes Denkmal gesetzt.
Irene Binal