© LVdM NRW_Susanne Troll

Pempel, Nora / Britta Renes

Fragen nach Macht und Hierarchie an Musikschulen

Neue Perspektiven auf Migration und Flucht im Projekt „Heimat: Musik“ des Landesverbands der Musikschulen in NRW

Rubrik: Bericht
erschienen in: üben & musizieren 2/2023 , Seite 50

Im Kontext Musikschule wird „Kulturelle Vielfalt“ oft mit migrantischen Perspektiven verwoben, die Kategorien Nationalität, Sprache und Religion werden betont. Der Landesverband der Musikschulen in NRW arbeitet daran, diese Auslegung von „Kultureller Vielfalt“ für die Musikschularbeit diversitätssensibler zu interpretieren.
Deutschland und besonders Nordrhein-Westfalen sind von Migration geprägt. Ein- und Auswanderung werden als Phänomene erkannt, die das Land beeinflussen, die diskutiert, aber nicht rückgängig gemacht werden können. Was bedeutet diese Realität für die Arbeit im Bereich „Kulturelle Vielfalt“? Wenn jede dritte Biografie der BewohnerInnen in NRW von Mig­ration geprägt ist, kann man dann noch über kulturelle Zugehörigkeiten sprechen bzw. ist eine Abgrenzung zwischen Migration und Nicht-Migration noch sinnvoll?
Im Kontext einer stärkeren Anerkennung mig­rantischer Perspektiven hat Naika Foroutan 2015 die Bezeichnung „postmigrantische Gesellschaft“ eingeführt.1 Sie beschreibt, „dass alle Lebensbereiche von Mig­ration nachhaltig beeinflusst wurden und werden, ob Alltag, Ökonomie, Bildungswesen oder Kunst“.2 Das Präfix „post“ steht dabei nicht für das Ende der Migration, sondern beschreibt gesellschaftliche Aushandlungsprozesse, die als Konsequenz von Migration entstehen.3 Diese Aushandlungsprozesse und der gesellschaftliche Wandel haben zweifellos auch Einfluss auf die Arbeit an öffent­lichen Musikschulen. Eine gründliche Refle­xion des gelebten Kulturverständnisses gehört dort heute zu den Aufgaben, woraus sich die pädagogische Arbeit weiterentwickelt.
Im Landesverband der Musikschulen in NRW (LVdM NRW) entstand als Konsequenz auf die weltweiten Fluchtbewegungen im Jahr 2015 das Projekt „Heimat: Musik – Projekte und Angebote für Geflüchtete an öffentlichen Musikschulen in Nordrhein-Westfalen“. Der Arbeitsbereich „Interkultur“ war zu diesem Zeitpunkt bereits ein Schwerpunkt in der Verbandsarbeit. Bereits in den 1980er Jahren entstand der Ansatz der interkulturellen Pädagogik als Reaktion auf die sogenannte Ausländerpädagogik4 der 1970er Jahre. Während Letztere davon ausging, dass sich MigrantInnen in die deutsche Mehrheitsgesellschaft einfügen und sich anpassen müssen, verstand sich der interkulturelle Ansatz als Weiterentwicklung: Verschiedene Kulturen sollten sich kennenlernen, um ein friedliches Miteinander führen zu können.5
Gerade für Menschen mit Flucht-, Migrations- oder Rassismuserfahrung war und ist es bis heute eine Möglichkeit, sich Gehör zu verschaffen, indem sie von „ihrer Kultur“ erzählen und diese anderen Menschen näherbringen. Jedoch ruft auch dieser Ansatz Problematiken hervor, denn er schafft eine „Überbetonung von Kultur“,6 die „Othering“ (Abgrenzungen und Machtstellung der eigenen Kultur gegenüber der Kultur der anderen) hervorruft und davon ausgeht, dass sich das Verhalten einer Person aus der Zugehörigkeit zu einer Kultur begründet. Die Betonung von Kultur schafft zudem Stereotype und Klischees.
Auch im Projekt „Heimat: Musik“ entstand nach umfassender Reflexion eine kritische Haltung zum interkulturellen Ansatz, sodass inzwischen die rassismuskritische und diversitätssensible Öffnung der Musikschulen im Vordergrund steht. Damit einher gehen nun auch die Perspektiven der bereits beschriebenen postmigrantischen Gesellschaft, die vor allem die Anerkennung einer vielfältigen Gesellschaft und das Überwinden einer Trennung zwischen MigrantIn und NichtmigrantIn in den Fokus stellen.7
Der Fachtag „Kulturelle Vielfalt weiterdenken“ an der Bergischen Musikschule Wuppertal sollte diesen Reflexionsprozess in die Musikschulen bringen – vor allem, um an der eigenen pädagogischen Haltung im Musikunterricht zu arbeiten. Canan Tekin (Coach e. V.8) führte in einem Impulsvortrag das Problem der Kulturalisierung aus. „Unter Kulturalisierung wird die Praxis verstanden, Kultur als wesentliche, zentrale und determinierende Erklärung für (individuelle) Handlungen, Einstellungen, Verhaltensweisen, Konflikte oder Ausdrucksweisen zu verstehen. […] Da es sich hierbei häufig um Fremdzuschreibungen und nicht um die eigene subjektive Identifikation handelt, gerät bei kulturalisierenden Interpretationen die Wirklichkeit häufig aus dem Blick.“9 Es muss folglich eine wesentliche Aufgabe von Musikschullehrenden sein, Kulturalisierung und daraus entstehende Stereotype und Zuschreibungen zu vermeiden.
Darüber hinaus ging Tekin auf intersektionale Blickwinkel ein, also auf das Problem der Verstärkung von Ungleichbehandlung aufgrund von Mehrfachdiskriminierung. Der Begriff „Intersektionalität“ nach Kimberlé Cren­shaw beschreibt das Zusammenwirken mehrerer Unterdrückungsmechanismen10 und stellt klar, „dass verschiedene Diskriminierungsformen nicht einzeln für sich wirken und einfach zusammengezählt werden können, sondern dass sie sich gegenseitig beeinflussen und so auch neue Formen der Diskriminierung entstehen können“.11
Welche Rolle Rassismus in den Räumen der Musikschule spielt und auf welchen Ebenen sich Diskriminierung äußern kann, stand im Zentrum des Workshops „Rassismuskritisches Handeln an Musikschulen“ von Canan Tekin und Sima Vortkamp (Coach e. V.). Dort wurde herausgearbeitet, welche Barrieren und Hürden existieren, die Menschen daran hindern, Angebote von Musikschulen wahrzunehmen. Sowohl finanzielle und sprachliche Hürden, bauliche Barrieren als auch das elitäre Bild vom Musikschulunterricht für „Hochbegabte“ sowie eine machtorientierte Pädagogik grenzen Menschen aus. Daher sind der respektvolle Umgang ohne Betonung eines hierarchischen Verhältnisses sowie Schutzkonzepte und die Vermittlung von vertieftem Wissen über rassistische Strukturen, Sprache und Handlungen wichtig. Reflexionsfragen für die Beobachtung der eigenen Praxis können sein: „Wann komme ich mit Rassismus in Berührung?“, „Was könnte am Begriff Integration problematisch sein?“, „Gebe ich Raum für Multiperspektiven?“
Gülay Türk und Jasaman Behrouz, Referentinnen der Landesarbeitsgemeinschaft Mädchen*arbeit,12 legten in ihrem Workshop den Fokus auf den intersektionalen Ansatz und die Rolle, die Rassismus und Sexismus in ihrer Überschneidung in der Lebenswelt von Mädchen spielt. „Das Konzept [der Intersektionalität] richtet den Blick vor allem auf die Art und Weise, wie Rassismus, Patriarchat, Klassenzugehörigkeit sowie andere Systeme der Unterwerfung eine nicht auf den ersten Blick sichtbare Ungleichheit konstruiert, welche die Beziehung von Frauen zu Rasse, Ethnie, Klasse und ähnliches bestimmt.“13 Bewegend für die Teilnehmenden war die persönliche Geschichte einer Referentin, die aus ihrer Zeit als Musikschülerin aufgrund ihrer Herkunft Diskriminierung an einer Musikschule erfahren und dadurch den Spaß am Musizieren verloren hat.
Der Workshop zu geschlechtlicher Vielfalt von Marek Sancho Höhne fokussierte verschiedene Geschlechteridentitäten und die Lebensrealitäten geschlechterdiverser Menschen. In einem lebhaften Gespräch wurden verschiedene Perspektiven auf das Merkmal „Geschlecht“ eingenommen, das „nie binär, sondern als Kontinuum zu verstehen ist“, so Höhne. Folgende Notwendigkeiten wurden für die Musikschularbeit gesehen: Veranstaltungen müssen inklusiv gestaltet und beworben werden. Geschlechterdiverse Menschen sollten auch in sichtbaren Arbeitsbereichen und als fachliche ExpertInnen einbezogen werden und geschlechterinklusive Sprache sollte konsequent in- und extern genutzt werden. Außerdem muss hinterfragt werden, wer mit den Angeboten (nicht) angesprochen und erreicht wird und wessen Lebensrealitäten die Gestaltung des Angebots, die Infrastruktur, die Öffentlichkeitsarbeit, die Inhalte bestimmen.
Im Workshop von Katja Hauser (Kölnische Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit e. V.) ging es schließlich um Antisemitismus als eine eigene Form der Diskriminierung, die auf Verschwörungsmythen gründet und „Gemeinschaft“ durch die Schaffung eines Feindbildes stiftet. Meist werden Juden nicht als minderwertige, sondern elitäre Gruppe bezeichnet. Zunächst wurden die eigenen Erfahrungen der Teilnehmenden mit Antisemitismus thematisiert. Anschließend wurden Interviews mit jüdischen Jugendlichen in Deutschland über antisemitische Erfahrungen gelesen und diskutiert. Eine Teilnehmerin kritisierte die in allen besprochenen Fällen fehlende Intervention durch Lehrkräfte bei antisemitischen Vorfällen. „In Fällen von Antisemitismus“, so Hauser, „ist es wichtig, sich sofort zu positionieren.“ Die Teilnehmenden sahen hier die Möglichkeit des Verfassens einer allgemeinen Erklärung gegen Antisemitismus in der Musikschule.
Nachdem das Projekt in den vergangenen acht Jahren stets weiterentwickelt und kritisch reflektiert wurde, hat sich eine Tatsache nicht verändert: „Heimat: Musik“ trägt weiterhin dazu bei, dass strukturelle Barrieren und Dominanzverhältnisse abgeschafft werden und mehr musikalische Begegnung an den Musikschulen stattfinden kann. Durch die intersektionale und diversitätssensible Ausrichtung des Projekts verändert „Heimat: Musik“ aber noch mehr: Es unterstützt Kollegien darin, angstfrei und offen über persönliche Diskriminierungserfahrungen zu sprechen und gemeinsam über die eigene (pädagogische) Haltung nachzudenken.
Durch die Perspektiven der postmigrantischen Gesellschaft wird 2023 eine kritische Auseinandersetzung mit dem Verständnis von Mig­ration in der Vergangenheit und Zukunft intensiviert. Dazu gehört auch die Aufarbeitung der kolonialen Geschichte Deutschlands. Was wurde bislang tradiert, was wurde ausgelassen? Welche Rolle spielen zum Beispiel weibliche, queere, migrantische, jüdische, Schwarze Perspektiven in der deutschen Musikschularbeit? „Heimat: Musik“ stellt die Fragen nach Macht und Hierarchie an Musikschulen, um die Idee einer inklusiven Grundhaltung zu vermitteln. Öffentliche Musikschulen müssen Orte sein, an dem sich jeder Mensch unabhängig von den individuellen Voraussetzungen und Biografien sicher und gerecht behandelt fühlt.

1 vgl. Foroutan, Naika: „Die postmigrantische Gesellschaft“, Bundeszentrale für politische Bildung, 2015, www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/205190/die-postmigrantische-gesellschaft (Stand: 27.2.2023).
2 Herm, Amelie/Nägler, Heike: „Manifest für eine Kulturpolitik und Kulturarbeit in der Postmigrantischen Gesellschaft. Oder: Wie wollen wir arbeiten?“, in: Kulturpolitische Mitteilungen, Nr. 172, 1/2021, https://kupoge.de/kumi/pdf/172/kumi172_58-61.pdf (Stand: 27.2.2023).
3 Foroutan, Naika, a. a. O.
4 vgl. Vielfalt.Mediathek des Informations- und Dokumentationszentrums für Antirassismusarbeit e. V. (IDA): „Von der Ausländerpädagogik über die interkulturelle Pädagogik zur Migrationspädagogik“, www.vielfalt-mediathek.de/auslaenderpaedagogik-interkulturelle-paedagogik-migrationspaedagogik (Stand: 27.2.2023).
5 vgl. ebd.
6 vgl. ebd.
7 vgl. „Manifest für eine Kulturpädagogik und Kulturarbeit in der Postmigrantischen Gesellschaft“ von Studierenden der HS Niederrhein, https://kultur-manifest.de/ wp-content/uploads/2021/04/Kulturmanifest.pdf (Stand: 27.2.2023).
8 Coach e. V. – Kölner Initiative für Bildung und Integration junger Migrant*innen, www.coach-koeln.de
9 Informations- und Dokumentationszentrums für Antirassismusarbeit e. V. (IDA), www.idaev.de/recherchetools/glossar (Stand: 27.2.2023).
10 vgl. Vielfalt.Mediathek des Informations- und Dokumentationszentrums für Antirassismusarbeit e. V. (IDA): „Intersektionalität“, www.vielfalt-mediathek.de/intersektionalitaet (Stand: 27.2.2023).
11 ebd.
12 Netzwerk und Fachstelle für queerfeministische und rassismuskritische Mädchen*arbeit und machtkritische Mädchen*politik, https://maedchenarbeit-nrw.de
13 Crenshaw, Kimberlé: Background Paper for the Expert Meeting on the Gender-Related Aspects of Race ­Discrimination, Zagreb 2000.

Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 2/2023.