Rueger, Christoph

Frédéric Chopin

seine Musik – sein Leben

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Parthas, Berlin 2009
erschienen in: üben & musizieren 4/2010 , Seite 58

Detaillierter geht es wohl kaum. Die Kunstgeschichtlerin und Kulturjournalistin Eva Gesine Baur hat sich mit aller Akribie mit dem Leben Frédéric Chopins vertraut gemacht und eine voluminöse Biografie vorgelegt. In erlebbarer historischer Gegenwart lässt sie den Leser teilhaben auch an kleinen Dingen im Leben ihres Protagonisten. So werden wir Zeuge von Chopins erstem Besuch auf George Sands Landsitz Nohant: „Zu Fuß geht Chopin mit George und den Kindern hinter einer Frau mit weißem, eckig gefaltetem Kopftuch her durch den Schlosshof, die Karren werden hinter ihnen dreingeschoben. Rechts sieht er die Wirtschaftsgebäude und die Stallungen […] Durch den dichten Garten gehen sie auf das zu, was sich Chateau Nohant nennt. […] In der Eingangshalle begrüßt der Hund die Neuankömmlinge.“
Mit der gleichen Ausführlichkeit erfährt man von vielerlei historischen Geschehnissen, politischen Wirren, Aufständen zwischen Warschau und Paris, nimmt teil an Chopins geschäftlichem Umgang mit Verlegern oder Konzertveranstaltern, wird eingeweiht in glückliche Liebeleien und unglückliche Lieben.
Doch was meinte Franz Liszt: „In das Allerheiligste seines Herzen drangen selbst seine nächsten Bekannten nicht ein.“ In das „Allerheiligste seines Herzens“? Gehört dazu nicht auch seine Musik? Was bleibt von einem Künstler, einem Komponisten, einem Genie gar, wenn man ihn seiner Kunst entkleidet? Ein interessanter, weil auch neurotischer Mensch? Eva Gesine Baur widmet sich Chopins Musik selten und wenn, dann unspezifisch. Und das ist in der Tat ein Mangel dieser Biografie.
Die Autorin hat wiederholt geäußert, ihr läge dringend daran, ihrem „Protagonisten nahe“ gekommen zu sein, „sein Seelenleben durchschaut zu haben“. Diese Nähe bringt auch Gefahren mit sich. Die Biografin schlüpft nämlich nicht selten in eine Rolle, die es ihr gestattet, ihren Protagonisten im Nachhinein zu kritisieren, in der Art eines „Hättest du doch nur“. Lange Zeit zeichnet Baur von Chopin das Bild eines faulen, mittelmäßigen Komponisten, von einem, der Entscheidungen scheut, abhängig von anderen und zu gebender Liebe nicht fähig. Und der das doch bitte zu ändern habe. Als Chopin dann seine Rolle gefunden hat, spätesten also in Paris, scheint auch Eva Gesine Baur mit ihrem Schützling zufriedener zu sein. Doch das Mäkeln lässt sie nicht. Und rührend naiv sind manche ihrer „Wunschbilder“.
Ein weiteres Phänomen dieser Biografie sind die Fragezeichen, derer sich Baur fast manisch bedient. Das gibt ihrer Sprache einen raunenden Ton. Da klingt es  so geheimnisvoll nach „hinter vorgehaltener Hand“, wenn zur Beziehung Marie d’Agoult/Chopin gefragt wird: „Hat sie sich nur, weil der sich beharrlich weigerte, für Liszt entschieden?“ Dieses Frageprinzip wirkt auf die Dauer enervierend.
Hätte der so genervte Leser Christoph Ruegers Chopin-Biografie zur Hand, dann böte diese den besten Ausgleich zu Vermutungen und unbeantworteten Fragen. Rueger ist Musikwissenschaftler und hat ein ganz unprätentiöses, fundiertes Buch über Chopin und seine Musik geschrieben – keinen Roman, der das Leben seines Protagonisten chronologisch verfolgt. Fünfzehn Kapitel widmen sich den zentralen Lebensstationen, zu denen auch Chopins Leben als umschwärmter Lehrer gehört. Rueger mäkelt nicht. Wenn er Chopins Liebe zu extravagant-feiner Kleidung beschreibt, so geschieht das mit sachlicher Empathie. Wenn Rueger über Chopins Bindungsprobleme in punkto Frauen oder die innige Beziehung zu seinem Freund Tytus schreibt, so „raunt“ es nicht geheimnisvoll, sondern es werden schlüssige psychologische Denkwege angeboten.
Tytus’ „Stellvertreterfunktion“ für unerfüllte Liebesbeziehungen, seine Rolle als Chopins Alter Ego, die Genügsamkeit in der platonischen Liebe des jungen Chopin, aus der heraus das musikalische Schaffen „aus dem Herzen“ einsetzt als „eine ideale Form der Sublimation“ – das wenige schon macht den Leser wach, sich seine eigenen Fragen über Chopins „Innerstes“ zu stellen.
Vergleicht man die Darstellung einer Begebenheit während des zweiten Wien-Aufenthalts in Ruegers und Baurs Biografien, so spürt man den Unterschied in beider Haltungen zur Person ihres Interesses. Rueger unterbricht das lange Zitat aus Chopins Brief an Jan Matuszynski über seinen Heiligabend-Besuch im noch leeren Stephansdom nicht, fällt Chopin nicht ins Wort und konstatiert: „Er lotet die düstere Stimmung mit Genuss aus.“ Baur bietet Bruchstücke des Zitats, ergänzt mit eigenen Worten, schafft so eine unruhige Atemlosigkeit. Baur schafft Stimmungen, Rueger klärt auf.
Rueger hat in seinem Buch der Musik einen eigenen, nach Werkformen gegliederten Kapitelteil beigegeben, den auch der musikalische Laie mit Gewinn lesen wird. Aber auch innerhalb des biografischen Teils kommt die Musik zur Sprache in dichtem Kontakt auch zu psychisch-seelischen Bereichen. Wem diese musikalische Nähe zu Chopin sowieso näher liegt, dem ist ohnedies als Ergänzung zu den beiden hier vorgestellten Büchern zu Mieczyslaw Tomaszewkis oder Tadeusz A. Zielinskis bewährten Chopin-Monografien zu raten.
Günter Matysiak