© Nadine Minderjahn

Dohmen, Katharina

„Fühl mal, wie du klingst!“

Eine Initiative zur Förderung und Entwicklung gesangs­pädagogischer Angebote für Hörgeschädigte und Gehörlose

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 2/2018 , Seite 46

Die Haltung, dass man aufgrund einer Hörschädigung keine oder nur bedingt Musik machen kann, ist immer noch sehr weit verbreitet. Doch während sich Tanz oder Instrumentalspiel nach und nach etablieren, fehlt es an einem Äquivalent im Bereich Gesang. Das Projekt “Fühl mal, wie du klingst!” von Katharina Dohmen möchte Raum schaffen für eine allen zugängliche gesangspädagogische Entdeckungs­reise über Stimme, Gebärden und multisensorische Musikwahrneh­mung.

Singen macht glücklich. Das ist längst nicht mehr nur eine Alltagserfahrung, sondern auch eine wissenschaftlich und musikpädagogisch erforschte Tatsache. Im Verständnis von Menschen mit gesund ausgeprägten Sinnesorganen ist die Fähigkeit zu singen oft nichts Besonderes. Was aber ist mit Menschen, die ihre Stimme nur schlecht oder gar nicht hören können? Meiner Recherche im Rahmen meiner Bachelorarbeit 2015 zufolge dient Singen mit Hörgeschädigten bislang zu­mindest im deutschsprachigen Raum hauptsächlich musiktherapeutischen Zwecken oder wird zur Verbesserung der Lautsprachkompetenz genutzt. Mein Schwerpunkt liegt im Gegensatz dazu auf dem gemeinsamen Singen und Erleben des eigenen Klangs als glücklich machendes Moment.
Doch wie kann man gesangspädagogisch mit Hörgeschädigten und Gehörlosen arbeiten? Das Schlüsselwort heißt „unvoreingenommen“: Berührungsängste und Vorurteile haben hier ebenso wenig Platz wie verstaubte Ansichten und festgefahrene Meinungen über Eigenschaften, Fähigkeiten und Möglichkeiten hörgeschädigter Menschen. Auch meine Erwartungshaltung wurde schon bei meiner ersten Erfahrung mit einem Chor gehörloser Mädchen am Bildungs- und Beratungszentrum für Hörgeschädigte in Stegen bei Freiburg im Juli 2015 „enttäuscht“: Statt von restlos gehörlosen Menschen umgeben zu sein, traf ich auf überwiegend mit technischen Hörhilfen versorgte und damit lautsprachlich kommunikationsfähige Kinder. Ein Phänomen, das aktuell auch an weiteren Förderschulen wie beispielsweise der LVR-Gerricus-Schule Düsseldorf mit Förderschwerpunkt Hören und Kommunikation zu beobachten ist.

Im Schuljahr 2015/16 habe ich einmal wöchentlich mit den zwölf Kindern der Klasse 3/4a dieser Düsseldorfer Schule sowie mit einer Gruppe hörgeschädigter Erwachsener, den Gebärdensängern der Gruppe TonZeichen aus Essen, gearbeitet – oder vielmehr ge­sungen, spielerisch Hörerfahrungen ausgetauscht, Ausdrucksformen entwickelt und körpereigene Klänge erforscht. Die Kinder, die ich kennengelernt habe, tragen alle entweder Hörgeräte oder Cochlea-Implantate und sind lautsprachlich kommunikations­fähig, wobei die Mehrzahl zusätzlich gebärdet. Das bedeutet, dass die Lautsprache mit Gebärden der Deutschen Gebärdensprache, jedoch ohne deren korrekte Grammatik, unterstützt wird. Die hörgeschädigten Erwachsenen sind ebenfalls alle unterschiedlich technisch versorgt. Die Deutsche Gebärdensprache hat keiner von ihnen je richtig gelernt, sie benutzen die Gebärden lautsprachbegleitend ausschließlich beim Singen.

Solmisation

Am Anfang meiner Arbeit stand bei beiden Gruppen die Frage nach der Wahrnehmungsfähigkeit von auditiven Informationen, Atem, Rhythmus, Tonhöhe, Klangfarbe und Dynamik sowie die Frage nach der Fähigkeit, ein Lied zu erlernen. Vor allem hinsichtlich der auditiven Wahrnehmung zeigten sich große Unterschiede zwischen den Kindern und den Erwachsenen, sicher nicht zuletzt bedingt durch den Zeitpunkt der Einführung technischer Hörhilfen sowie durch den Entwicklungsstand der Implantate. Mit geschlossenen Augen dem Ton der Stimmgabel zu lauschen, die ich nach dem Anschlagen auf die Rückseite meiner Gitarre gestellt hatte, und den erhobenen Arm sinken zu lassen, sobald der Ton leiser wurde und man schließlich nichts mehr hören konnte, wurde zu einem beliebten Spiel und Anfangsritual für die GrundschülerInnen.
Die Tatsache, dass die Kinder im Alltag lautsprachbegleitende Gebärden benutzen, weil ihnen das die Kommunikation ergänzend zur Lautsprache erheblich erleichtert, brachte die Arbeit sofort auf eine sehr körperliche Ebene. Die Kinder sind es gewohnt, mit den Händen zu sprechen: Da war der Schritt, auch mit den Händen und dem Körper zu singen, nur logisch. Somit lag es für mich nahe, mit den Kindern zu solmisieren. Anfänglich gab es Irritationen bezüglich der Silben, sodass ich sie zum besseren Verständnis an die Tafel geschrieben habe, da sie rein auditiv sonst falsch verstanden wurden. Nach und nach gelang es der Klasse, zunächst mit Hilfe der Kodály-Handzeichen auch die richtigen Tonhöhen zu treffen. Allerdings bin ich nach einigen Wochen auf die Zeichen der Ward-Methode umgestiegen, da die Handformen bei der Solmisation nach Kodály gelegentlich zu Missverständnissen durch die Verwechslung mit Gebärden geführt hatten: Aus dem „Do“ als geschlossene Faust vor dem Bauchnabel konnte man bei der Wiederholung „Do-Do“ beispielsweise auch die Gebärde für „schnell“ missverstehen.
Natürlich haben es die Kinder auch auf solche Missverständnisse angelegt: Was ist schließlich witziger, als statt „So-Mi“ erst mal „Zombie“ zu verstehen und sich gründlich kaputt zu lachen? In der Ward-Methode werden die Tonstufen mit der flachen Hand, die Innenseite nach unten zeigend, an verschiedenen Stellen am Körper entlang angezeigt, beginnend am Bauchnabel bis zum hohen „Do“ hoch über dem Kopf (hierbei wird die Hand dann nach oben hin aufgeklappt, bei den anderen Tonstufen bleibt die Handform unverändert). Ein zusätzlicher Vorteil liegt auch da­rin, dass beim „So“ die Hand auf der Schädel­decke aufliegt und die Kinder die beim Singen entstehenden Vibrationen während des Solmisierens deutlich nachspüren können.

Gebärden

Andere Gesangsübungen wie das Aushalten eines Tons auf der Silbe „Nu“ konnten sowohl die Kinder als auch die Erwachsenen, immer auch in Kombination mit einer Bewegung, gut mitmachen. Das Singen anderer Vokalisen mit Tonwechseln konnten die Kinder nach einer Eingewöhnungszeit nachsingen, während die Erwachsenen ohne zusätzlichen optischen oder haptischen Reiz nicht in der Lage waren, die Veränderung der Tonhöhe wahrzunehmen und umzusetzen, vor allem wenn es sich um kleine Intervalle handelte. Sie brauchten auch bei bekannten Melodien einen „richtigen“ Text anstatt nur einer Silbe, um sich daran zu orientieren. Mit den Erwachsenen war demnach auch das Erlernen eines unbekannten Stücks ohne Textblatt fast unmöglich.
Mit den Kindern gestaltete sich das Erlernen eines Liedes nach der mit normalhörenden Kindern üblichen Methode des Vor- und Nachsingens anfangs schwierig und gelang mit Hilfe lautsprachbegleitender Gebärden wesentlich besser. Beim Gummibären-Song („Ich kenn ’nen Bär“, Text und Melodie: Georg Feils) konnte ich außerdem die Gebärde für „Gummibär“ zugleich für eine Stimmbildungs­übung mit gedehntem „mmmmm“ einsetzen. Die Gebärde setzt sich zusammen aus „Gummi“ – dem Auseinanderziehen eines imaginären Gummibandes mit zwei Händen – und „Bär“ – dabei imitiert man mit Mimik und Gestik einen Bären. Es gibt für viele Worte mehrere Gebärden. Ich habe mich an meinen Kenntnissen aus den Gebärdensprachkursen an der VHS Düsseldorf orientiert und vor allem auch an dem, was ich von den Kindern in der Schule gelernt habe.
Dieses gegenseitige Voneinander-Lernen bedeutet eine große Bereicherung für meine Arbeit: Wie klingt ein bestimmter Tierlaut denn eigentlich für dich und wie stellst du ihn mit deinem Körper klanglich und gestisch dar? Wie verändert sich dein Klang je nach Stimmung? Beim Lied Dschungel, Dschungel meines ehemaligen Professors Uli Führe habe ich den Text zunächst pantomimisch und danach mit Gebärden vorgemacht und dabei lautlos mitgesprochen. So konnten die Kinder sich den Text visuell selbst erarbeiten. Später haben wir das Lied dann auch in verschiedenen Stimmungen gesungen, von wütend über traurig und nachdenklich zu fröhlich und beschwingt. Die Kinder waren ganz begeistert und haben viele Dinge entdeckt; ein Junge bemerkte zum Beispiel: „Da wo der Leopard kommt, klingt deine Stimme auf einmal ganz süß!“ Ob seine Stimme da denn auch süß klänge? Das haben wir gleich mal ausprobiert…

Sensibilisierung

Im Frühjahr 2017 habe ich meine Klasse in Düsseldorf noch einmal besucht. Inzwischen sind zur Hälfte andere Kinder in der Klasse, die ehemaligen Viertklässler fehlen und es gibt neue Drittklässler, die ich noch nicht kannte. Es war eine große Freude mitzuerleben, wie Inhalte, die ich mit den Kindern erarbeitet hatte, so gut im (Körper-)Gedächtnis geblieben waren, dass die „alten Hasen“ den Neuen nicht nur unsere Lieder beibringen, sondern sogar das Solmisieren vormachen konnten.
Die für mich wichtigste Erfahrung aus dieser ersten Runde meines Projekts ist, dass es allen Beteiligten Spaß gemacht hat. Ich habe viele wichtige Einblicke und Denkanstöße für meine weitere Arbeit beschert bekommen, vor allem aber habe ich mit den beiden Gruppen unheimlich viel gelacht, geforscht, ausprobiert, entdeckt und gelernt. Zum Beispiel ist es für das Singen mit Hörgeschädigten sehr wichtig, dass man einen Raum zur Verfügung hat, der genug Bewegungsfreiheit für alle und dazu die Möglichkeit des ständigen Sichtkontakts miteinander bei guten Lichtverhältnissen ermöglicht. Außerdem sollte die Umgebungslautstärke ein Minimum betragen, weil bereits ein geringer Nebengeräuschpegel sehr ablenkend sein kann. Möglicherweise ist auch die Installation einer Frequenz-Modulationsanlage sinnvoll. Diese ermöglicht eine Übertragung frequenzmodulierter Funksignale, z. B. eines Mikrofons, direkt in die Hörhilfen – also ohne dass alle anderen diese Verstärkung auch hören wie etwa über Lautsprecher. Eine solche Anlage habe ich beim Sprechen in der Schule benutzt, wohingegen ich sie beim Singen ausgeschaltet habe.
Grundsätzlich habe ich mit den Erwachsenen eher auf einem stimmbildungstechnischen Basislevel mit Schwerpunkt auf Atemregulierung gearbeitet, während es bei den Kindern mehr um die Sensibilisierung des Körpers für die multisensorische Wahrnehmung zur Entwicklung eines Singgefühls und Klangempfindens ging. Die Tatsache, dass die Kinder tendenziell eher „mit einem Auge“ als „mit einem Ohr“ bei der Sache sind, kommt dabei dem Bestreben nach mehr nonverbaler Kommunikation im Gesangsunterricht und der Chorprobe entgegen. Ich sehe jedenfalls ein großes Potenzial in dieser Arbeit und freue mich auf viele weitere Erfahrungen und Erkenntnisse auf meiner multisensorischen, musikpädagogischen und zwischenmenschlichen Entdeckungsreise.
Zum Schluss möchte ich Sie, ob hörgeschädigt oder normalhörend, gerne auf diese Reise einladen. Denn bei meinem Projekt geht es keineswegs um die Anpassung Hörgeschädigter an die Fähigkeiten Normalhörender. Vielmehr wünsche ich mir eine Annäherung von beiden Seiten. Gesang und Bewegung miteinander zu kombinieren, ist keine neue Idee. Bewegung in Form von Gebärden mit Gesang zu verbinden, ist nur eine von vielen Ideen gelebter Inklusion. Hierbei geht es auch um eine soziale Komponente. Reizvoll wäre für mich beispielsweise ein bunt-hörender Kinderchor oder auch ein Chor erwachsener Verschieden-Hörender, der singt und gebärdet, jeder wie er kann und mag. Beides verstehe ich als spannende gesangspädagogische Gemeinschaftsangebote mit weiterem Schwerpunkt auf dem Abbau von Berührungsängsten und Barrieren zwischen der hörenden und der nicht- bzw. andershörenden Welt.
„Fühl mal, wie du klingst!“ soll für alle zugänglich und erfüllend sein. Dieser Titel ist übrigens nicht nur der Name meines Projekts, sondern ursprünglich mein persönliches Motto als Sängerin und Musikpädagogin – und richtet sich nun als Appell an Sie in Ihrem Singen und Musizieren: Fühl mal, wie du klingst!

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