Krönig, Franz Kasper

Fünf Dimensionen ­unterrichtlicher Öffnung

Offener Unterricht im Gruppenunterricht an der Musikschule

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 5/2012 , Seite 51

Wie schaffen wir es im musikalischen Gruppenunterricht, jede und jedenso ins Spiel zu bringen, dass nie­mandem Barrieren gesetzt ­werden, niemand zum Problem wird, dass individuelle Entwicklungs­potenziale erkannt werden und ­individuelle Stärken sich entfalten?

Nachdem der pädagogische Diskurs der 1990er und teilweise der 2000er Jahre sich auf einen bestimmten Begriff der Qualität bezog, womit Outputorientierung im Sinne effizienter Leistungserwartung verbunden war,1 ist mit dem aktuellen Leitbegriff der Inklu­sion2 ein völlig veränderter Problembezug auch musikschulischer Bildung sichtbar geworden: nicht mehr (nur oder vorrangig), wie wir Exzellenz in der Spitze und hohe musi­kalische Kompetenz in der Breite erreichen, sondern wie wir die Heterogenität unserer SchülerInnen anerkennen und die angemessenen Schlüsse daraus ziehen. Unmittelbar damit verbunden ist eine Didaktik der Schülerzentrierung,3 die wiederum Formen der Öffnung zu implizieren scheint (Demokratisierung, Individualisierung). Der vorliegende Aufsatz sieht unterrichtliche Öffnung nicht nur als eine konsequente Umsetzung berechtigter Forderungen nach inklusiver Pädagogik, sondern zudem als einen Weg für Musikschullehrkräfte weg von der Rolle als Motivatoren und Disziplinaufseher hin zur Rolle als Mitmusiker.

Neue Herausforde­rungen und pädago­gischer Fortschritt

Die außergewöhnliche Karriere der Schlagworte und Phrasen „Inklusive Bildung“4 und „Heterogenität als Chance“5 verweist auf ­eine Neuausrichtung der Pädagogik, wenn auch die betreffenden Konzepte alles andere als neu sind. Ihre nun in der Breite nicht zuletzt bildungspolitisch geforderte Zentralstellung verschiebt das pädagogische Koordinatensystem in allen Dimensionen. Das Verständnis dessen, was wir unter einem Kind, was unter einer Gruppe und was unter Lehr-Lern-Prozessen verstehen, ist davon subs­tanziell betroffen. Ausgehend von konstruktivistischen oder systemischen wissenschaftstheoretischen Positionen kann das Kind nicht länger als mehr oder minder tauglicher Rezeptor und Speicher didaktisch aufbereiteter Information gesehen werden, noch wird seine Fähigkeit, sich pädagogischen Angeboten welcher Qualität und Adäquatheit auch immer zu fügen, als Disziplin gelobt, zwingend vorausgesetzt und zum Kriterium seiner Tauglichkeit gemacht.

Wie soll in einer einzigen Wochenstunde ein radikales pädagogisches Konzept umgesetzt werden? Wie sollen die Kinder eigene methodische Wege zum Instrument entdecken und gehen, wenn viele dieser ­Wege nicht aufbaufähig und eventuell sogar haltungsschädigend sein können?

Im gleichen Geiste kann eine Gruppe nicht als eine bloße Summe Einzelner, als ein Behältnis betrachtet werden. Dass Gruppen soziale Interaktionssysteme mit ganz eigenen, zum Teil hochkomplexen Strukturen, einer ­eigenen Geschichte, einer eigenen Kultur (Lernkultur) sind, denen man als Beobachter, als Teilnehmer und als Lehrperson in aller Regel staunend und keinesfalls mit Durchblick gegenübersteht, ist sowohl als wissenschaftliche Erkenntnis als auch als pädagogische Erfahrung eindrucksvoll.
Lehren und Lernen sind entsprechend nicht als linearer Steuerungsprozess zu denken, der von Lehrpersonen ausgehend geplant, strukturiert und geleitet wird. Nicht nur, dass Lernen überwiegend nicht-formal abläuft6 (man denke nur an Mutterspracherwerb oder Medienkompetenzen), sondern auch die Tatsache, dass Lernprozesse Eigenaktivitäten eines selbstgesteuerten Systems sind, fordert ein Überdenken der klassischen Lehrer-Schüler-Asymmetrie ein.

Unterrichtliche ­Öffnung als Königsweg

Eine einzelne Lehrperson kann in einer Kindergruppe nicht gleichzeitig eine Vielzahl von Angeboten machen, die auf die jeweiligen Kinder zugeschnitten sind (Differenzierung). Genauso wenig kann sie sich dauerhaft mit den Kindern als Einzelne beschäftigen. Wendet man sich auch nur zwei Minuten lang einem Kind zu (Individualisierung) und berücksichtigt dabei die anderen – sagen wir: sechs – Kinder nicht, ist erfahrungsgemäß nicht nur die Interaktion mit dem einen Kind wegen Lärm gefährdet, sondern die ganze Stunde droht im Chaos zu versinken. Hat eine Lehrperson eine Gruppe derart „im Griff“, dass sechs Kinder ruhig warten, bis sie sich ihnen zuwendet, liegt entweder eine ungewöhn­liche Ausnahmesituation oder -konstellation vor oder ein unerträglich autoritärer Stil.
Die Forderung an MusikschullehrerInnen, sich im Zuge pädagogischen Fortschritts zum Beispiel mittels Fortbildungen in die Lage zu versetzen, individualisierend und differenzierend zu arbeiten und dabei Heterogenität als Chance schätzen zu lernen, ist und bleibt dann eine Überforderung, wenn es darum geht, Methoden zu erlernen bzw. einzusetzen, mit denen die Lehrperson individualisiert und differenziert. Abgesehen von einzelnen Virtuosen, die derart schnell und omnipräsent sind, dass sie mehrere Angebote und Interaktionen quasi gleichzeitig zu machen scheinen, kann Individualisierung und Differenzierung nicht „gemacht“ werden. Sie kann aber zugelassen und befördert werden. Wie das geht, beweist unter dem Stichwort „Offener Unterricht“ die Schulpädagogik eindrucksvoll und mit wissenschaftlich nachgewiesenem Erfolg.7
Falko Peschel, der wohl radikalste Vertreter des Offenen Unterrichts in der Grundschulpädagogik, unterscheidet fünf Dimensionen unterrichtlicher Öffnung, wobei er nur von Offenem Unterricht (großgeschrieben) sprechen möchte, wenn alle diese Ebenen zugleich gemeint sind: inhaltliche, methodische, soziale, persönliche und organisatorische Öffnung.8 Unter inhaltlicher Öffnung versteht man den Verzicht auf Vorgaben bezüglich der Lerngegenstände durch Lehrpersonen.9 Methodische Öffnung liegt für Peschel vor, wenn die „Bestimmung des Lernweges auf Seiten des Schülers“ liegt.10 Bei organisatorischer Öffnung werden die Sozialformen (Einzel-, Partner-, Gruppenarbeit), die Zeiteinteilung der Arbeit und die Raumfrage (außerhalb und innerhalb des Klassenraums) den SchülerInnen freigestellt. Soziale Öffnung betrifft die Demokratisierung aller Entscheidungen, insofern auch die Regeln und Verfahren durch die SchülerInnen demokratisch bestimmt werden und die Lehrpersonen dabei nicht mehr als gleichberechtigt sind.11 Die persönliche Öffnung ersetzt die Asymmet­rie der klassischen Schüler-Lehrer-Beziehung durch eine gleichberechtigte und gleichrangige Beziehung (die allerdings die jeweiligen Unterschiede z. B. hinsichtlich der Fähigkeiten und Kenntnisse der Betreffenden nicht ignoriert).

Möglichkeiten und Grenzen Offenen ­Unterrichts

Musikschullehrkräfte, die sich für unterrichtliche Öffnung interessieren und erste Schritte in diese Richtung versuchen möchten, befinden sich in einer gänzlich anderen Situa­tion als LehrerInnen an allgemein bildenden Schulen: Diese können auf dokumentierte Erfahrung, Forschungsergebnisse, fachdidaktische Publikationen, Fortbildungsmaßnahmen und Hospitationsangebote aus ihrem Bereich zurückgreifen. Das ist aber erst die nachrangige Unterscheidung. Die Tatsache, dass Offener Unterricht in musikschulischen Angeboten nicht sichtbar ist und vermutlich in der strengen Form kaum vorkommt, hat handfeste sachliche Gründe: Wie soll in einer einzigen Wochenstunde ein radikales pädagogisches Konzept umgesetzt werden? Wie kann Individualisierung in einer Musik­gruppe gelingen, wenn eine individualisierte Trompete oder ein Schlagzeug doch schon durch ihre Lautstärke sämtlichen Raum für musikalische Entfaltung der anderen unmöglich machen können? Wie sollen die Kinder eigene methodische Wege zum Instrument entdecken und gehen, wenn viele dieser ­Wege nicht aufbaufähig und eventuell sogar haltungsschädigend sein können? Schauen wir uns die vier zentralen Ebenen der Öffnung einmal in Bezug auf musikschulischen Gruppenunterricht und deren Möglichkeit zur Verwirklichung an.

Soziale Öffnung

Soziale Öffnung als durchgreifende Demokratisierung der Gruppe ist in der musikschulischen Arbeit mindestens so gut umsetzbar wie in Schulklassen. Versteht sich eine Gruppe als Ensemble, z. B. als Band, ist der Anspruch auf volle Gleichberechtigung aller selbstverständlich. Die besondere Herausforderung für die jeweils gewählten Kreisleiter ist, die Stunde so zu moderieren und Entscheidungen so herbeizuführen, dass die Interessen aller Kinder berücksichtigt werden. Nach meiner Erfahrung sind Grundschulkinder schnell in der Lage und Willens, ihre eigenen Vorschläge in einen Gruppenkontext einzubetten, das heißt mitzubedenken, was die jeweils anderen gleichzeitig miteinander oder in anderen Kleingruppen machen könnten.

Inhaltliche Öffnung

Was die inhaltliche Öffnung betrifft, gibt es zwei Besonderheiten. Zum einen ist festgelegt, dass im weiteren Sinne Musik gemacht wird und nicht etwas völlig anderes. Zum anderen sind musikschulische Angebote relativ freiwillig.12 Diese beiden Gesichtspunkte neutralisieren sich, grob gesagt, wechselseitig. Hat sich jemand einigermaßen freiwillig für ein musikalisches Angebot entschieden, ist die Festlegung auf Musik, wenn sie denn in dem Rahmen sehr offen bleibt, noch kein harter Widerspruch zu inhaltlicher Öffnung. Jedenfalls ist es möglich, die Wahl der Instrumente, des Repertoires und der musikalischen Tätigkeitsformen (Nachspielen, Üben, Improvisieren, Komponieren, Experimentieren, Spielen) der Gruppe völlig freizustellen. Das heißt aber noch nicht, dass die einzelnen Kinder diese Wahl individuell für sich treffen können, da es bei Musik schlecht möglich ist, ungestört und niemanden störend nebeneinander her zu arbeiten.
Die Akzeptanz dieser Einschränkung der Individuen durch die Gruppe hängt unmittelbar an der Form sozialer Öffnung. Um legitime Entscheidungen herbeizuführen, muss soziale Öffnung zum einen radikal umgesetzt werden, da sonst „Ungerechtigkeit“ auf die Lehrperson attribuiert wird, und zum anderen darf sie nicht unterkomplex sein. Zum Beispiel reicht eine einfache Mehrheitsentscheidung ohne Minderheitenschutz in der Praxis nicht aus. Das Problem entschärft sich natürlich, wenn verschiedene Räume zur Verfügung stehen.

Methodische Öffnung

Methodische Öffnung ist eine ganz wesent­liche Dimension unterrichtlicher Öffnung. Sie stellt aber für den musikschulischen Gruppenunterricht ein großes Problem dar. Stellte man einer Kindergruppe einfach eine Reihe von Instrumenten zur Verfügung, die sie jede und jeder auf eigene Weise entdecken und dann erlernen sollen, riskierte man nicht nur die Unversehrtheit der Instrumente, sondern auch die Gesundheit von Kindern ohne Aussicht auf nachhaltigen Lernerfolg.
Aus diesem Grund öffne ich meinen Unterricht erst, wenn ein gewisses – ziemlich genau bestimmbares – Minimum an methodischen Kompetenzen und konkreten Fertigkeiten im Umgang mit Instrumenten gegeben ist. Sind z. B. bestimmte Übemethoden in Gruppen eingeführt (z. B. Üben im Metrum reihum, Call and Response), werden sie oft von den Kindern auch eigenständig eingesetzt. Andererseits kann man von Kindergruppen lernen, dass auch ganz andere Methoden und Abläufe gelingen können. Beispielsweise laufen Übevorgänge nach meiner Beobachtung wesentlich schneller und wechselhafter, dann aber auch konzentrierter ab, wenn Kinder darüber entscheiden.

Organisatorische Öffnung

Ein großer Schwachpunkt musikschulischer Angebote ist ihre organisatorische Starrheit. Es muss in aller Regel zu einer bestimmten Stunde in der Woche Musik gemacht werden, auch wenn vieles dagegen sprechen kann. Entscheidend für den Erfolg von Öffnungsprozessen scheint mir zu sein, ob die Möglichkeit räumlicher Differenzierung gegeben ist. Wenn es überhaupt nicht möglich ist, dass sich auch mal Kleingruppen bilden, die selbstorganisiert etwas üben oder z. B. komponieren, wird eine kritische Schwelle zur ­Individualisierung unterschritten. Dass die Gruppe selbst entscheiden darf, genügt dann nicht, wenn die Einzelnen sich allzu oft mit ihren Wünschen und Ideen nicht durchsetzen können.
Sehr bewährt hat sich in meiner Arbeit, z. B. den Flur als zusätzlichen Raum einzubeziehen, sodass je nach Neigung und Notwendigkeit eine kleine Gruppe instrumental von- und miteinander übt, während andere z. B. Songtexte schreiben. Den Einwand, dass auf diese Weise einzelne Schüler als Hilfslehrer für andere eingesetzt werden, würde ich nur dann gelten lassen, wenn es sich um längere Phasen handeln würde und wenn es so wäre, dass es die einen Schüler gäbe, die alles können, und die andern, die nichts können. Zudem habe ich noch nicht erlebt, dass ein Schüler oder eine Schülerin unglücklich damit war, für wenige Minuten in der Situation zu sein, ihr oder sein Können einer Kleingruppe zu vermitteln.

1 vgl. Franz Kasper Krönig: Die Ökonomisierung der Gesellschaft. Systemtheoretische Perspektiven, Bielefeld 2007.
2 vgl. Ines Boban/Andreas Hinz: „Integration und Inklusion als Leitbegriffe der schulischen Sonderpädagogik“, in: Günther Opp/Georg Theunissen (Hg.): Handbuch
der schulischen Sonderpädagogik, Bad Heilbrunn 2009, S. 29-36.
3 Angelika C. Wagner: „Schülerzentrierter Unterricht“, in: dies.: Schülerzentrierter Unterricht, München 1982, S. 16-39.
4 „Inklusive Bildung“ hat als exakte Phrase (feste Buchstabenreihenfolge) 173000 Treffer bei einer Google-Suche (Stand: 28. Januar 2012).
5 „Heterogenität als Chance“ findet man als exakte Phrase bei Google sogar 452000 Mal (Stand: 29. Januar 2012).
6 Die Rolle und Leistungen des informellen Lernens und dessen gezielte Implementierung in den Musikunterricht hat Lucy Green untersucht, erprobt und evaluiert: Lucy Green: Music, informal learning and the school. A new classroom pedagogy, Surrey 2008. Sie bezieht sich dabei allerdings auf regelschulischen Unterricht mit Teenagern unter günstigen infrastrukturellen Bedingungen.
7 vgl. Falko Peschel: Offener Unterricht. Idee, Realität, Perspektive und ein praxiserprobtes Konzept zur Diskussion, Bd. 1 und Bd. 2, Baltmannsweiler 2003.
8 Falko Peschel: Offener Unterricht 1 und 2: Idee, Rea­lität, Perspektive und ein praxiserprobtes Konzept zur Diskussion, Bd. 1: Allgemeindidaktische Überlegungen, Baltmannsweiler 2005, S. 77.
9 vgl. ebd., S. 78 ff.
10 ebd., S. 77.
11 vgl. ebd., S. 89.
12 Man darf den Erwartungsdruck oder sogar in manchen Fällen den realen Zwang der Eltern nicht aus dem Blick verlieren. Zu der konkreten einzelnen Stunde kommen die SchülerInnen in aller Regel nicht völlig freiwillig bzw. müssen zumindest sehr plausibel begründen, weshalb sie nicht kommen wollen oder können.

Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 5/2012.