Heller, Barbara

Fünf-Finger-Turm

Klavierstücke auf schwarzen Tasten

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2016
erschienen in: üben & musizieren 1/2017 , Seite 54

Die 1936 in Ludwigshafen geborene, seit Langem in Darmstadt wohnhafte Komponistin Barbara Heller sieht seit jeher einen Schwerpunkt ihres Schaffens in der Klaviermusik. Ihre besondere Aufmerksamkeit gilt der klavierspielenden Jugend, der sie bereits mehrere Werke mit pädagogischem Unterton widmete. Ihr Hauptanliegen ist dabei nicht vordergründige Brillanz, sondern eine umfassende musikalische Schulung aus dem Klang des Inst­ruments heraus.
Oft setzt die Schülerin von Hans Vogt und Harald Genzmer zu diesem Zweck postimpressionis­tische und mini­malistische Struk­­turen ein. Und auch die sinnvolle Verwendung beider Pedale – häufig ein Stiefkind der Klavierpädagogik – gerät ihr nie aus dem Blick.
Der Anstoß zu ihrem neuesten, rund 100 Seiten umfassenden Werk kam von außen: Das „Piano-Podium Karlsruhe“ thematisierte 2014 in einer Ausschreibung das Spannungsfeld „Architektur und Klaviermusik“. Heller wählte als Vorlage ein Wahrzeichen ihrer Wahlheimat Darmstadt, nämlich den 1905 vom Jugendstil-Baumeister Joseph Maria Olbrich entworfenen und drei Jahre später fertiggestellten Fünf-Finger-Turm, ein Bauwerk, dessen fünffach in unterschiedlicher Höhe gewölbte Dachkonstruktion in den Himmel weisende Finger abzubilden scheint.
Die Komponistin verwandelt die Anregung in insgesamt 27 Stücke, die ausschließlich auf den fünf schwarzen Tasten des Klaviers zu spielen sind. Die Schwie­rigkeitsgrade steigern sich von Stück zu Stück, überschreiten aber nicht den unteren Mittelstufenbereich. Die Titel der Stücke beziehen sich ausnahmslos auf den Turm, der in „Aussicht“, „Turmgespenst“, „Besteigung“, „Fundament“ etc. immer wieder als ausdrückliche Inspirationsquelle dient.
Die durch die Beschränkung auf die schwarzen Tasten implizierte Pentatonik weiß Barbara Heller auf vielfältige Weise auszuschöpfen: Die bei gehaltenem Pedal sich addierenden Arpeggien in allen Lagen, Doppelgriffstudien, drei- bis fünfstimmige Akkordschichtungen mit reicher rhythmischer und dynamischer Differenzierung, auch ansprechende Cantabile-Studien („Wenn der Turm singen könnte“) überzeugen nicht zuletzt dadurch, dass beide Hände den gleichen Anforderungen ausgesetzt werden.
Vielleicht müssten nicht ganz so viele Stücke in Ges-Dur bzw. es-Moll enden. Andererseits fügt die Komponistin eine Reihe von kurzen Zwischenspielen an, die als Überleitung zwischen den Hauptstücken, noch mehr aber als Anregung zur Improvisation dienen sollen. Jeder erfahrene Klavierpädagoge weiß, dass die SchülerInnen über das Schwarze-Tasten-Spiel noch am ehesten zu ersten eigenen Improvisationen zu bringen sind, weil es niemals „falsch“ klingt. Eine kleine Folge systematisierender Vorübungen schließt diese originelle und facettenreiche Edition ab.
Rainer Klaas