Fuhrmann, Gregor
Gefärbte Tasten
Zum Impressionismus in Claude Debussys „Préludes“ für Klavier
Ein herkömmliches Klavier hat 36 schwarze und 52 weiße Tasten, die in der Regel nicht abfärben. Daran ändert sich auch nichts, wenn man auf ihnen eines der schillernden Klavierwerke Claude Debussys zum Klingen bringt. Und dennoch werden die wenigsten nach einer Reise zu den Hügeln von Anacapri, ja sogar nach einem Spaziergang durch den Schnee ohne bunte Finger Abschied von der Tastatur nehmen können…
Impressionismus – ein Begriff, der heutzutage den Augen der meisten Kunstliebhaber ein leuchtendes Blitzen entlockt, war im Jahr 1874 nicht viel mehr als ein Schimpfwort. Eine junge Generation experimentierfreudiger Maler hatte damals im Atelier des Fotografen Nadar mit ihren noch nicht ganz getrockneten Bildern die Sehgewohnheiten des Pariser Publikums auf eine harte Probe gestellt. Bei aller Verschiedenheit ihrer jeweiligen Vorlieben fühlten sich die aufstrebenden Künstler doch in einem wesentlichen Drang miteinander vereint: Sie lehnten es ab, in der École des Beaux Arts die alten Meister zu kopieren und ihre Motivwahl immer wieder auf dieselben Vorbilder aus antiker Mythologie und biblischer Erzählung zu beschränken. Sie flohen aus den verstaubten Akademien und Ateliers hinaus in die Welt, wo sie sich an Küsten und Flussläufen dem Schauspiel der Natur und auf Plätzen und Boulevards dem Theater der Großstadt widmeten.
Die jungen Maler liebten das Wasser, in dem sich das Licht auf unendliche Weise zu spiegeln vermochte, sie spürten den Schatten nach, denen sie erstmals in der Geschichte der Malerei Farbe zu verleihen wagten, und sie verfolgten die changierenden Stimmungen der Tages- und Jahreszeiten, die sie durch das Malen en plein air (unter freiem Himmel) auf ihre Staffeleien zu bannen versuchten. Nicht die Linie, sondern die Farbe stand im Zentrum ihres Interesses, nicht das Statische, sondern das Beweglich-Fließende erregte ihre Aufmerksamkeit. Neben dieser unorthodoxen Motivwahl war es wohl vor allem ihre besondere Technik, die Farben „nass in nass“ auf die Leinwand aufzutragen, die viele verständnislose Kritiker dazu veranlasste, dem Kollektiv der jungen Künstler anstelle eines ungewöhnlichen Blicks auf die Welt lediglich eine seltsame Augenkrankheit zu attestieren.
Zum Stichwortgeber für die abwertende Titulierung des neuen Stils avancierte Claude Monets Bild Impression, soleil levant (Impression, aufgehende Sonne). Während sich das hieraus abgeleitete Etikett bis in unsere Zeit zur Kennzeichnung der von Frankreich bald auf das restliche Europa übergreifenden Kunstströmung gehalten hat, müssen Maler wie Manet, Renoir, Pissarro oder Cézanne heute glücklicherweise nicht mehr darum fürchten, dass ihre Kunst durch den Begriff des Impressionismus verunglimpft würde.
Debussy – ein musikalischer Impressionist?
Auch der junge Claude Debussy (1862-1918) kollidierte während seiner musikalischen Ausbildung am Pariser Conservatoire mit der akademischen Tradition. Den verkrusteten Kontrapunkt- und Harmonielehreübungen mancher Lehrer begegnete der rebellische Student stets mit ironischem Witz, ihren starren Regeln wollte er partout weniger Vertrauen schenken als seinen eigenen aufmerksamen Ohren, die sich bald über die engen Grenzen der Schulräume hinaus nach einer frei schwebenden „musique de plein air“ sehnten.1 Noch Jahre nach seinem Studium ließ Debussy durch Monsieur Croche, sein literarisches Alter Ego, in lakonischer Überspitzung verkünden, dass ihm die Betrachtung eines Sonnenuntergangs weitaus nützlicher erscheine als das Hören der beethovenschen Pastoralsymphonie. Nicht die Kunst, sondern die Natur galt dem feinfühligen Franzosen als eigentliche Lehrmeisterin; in ihrem Konservatorium könne der Mensch die Musik so leicht lernen wie das Atmen.
Immer wieder waren es solche bildlich-poetischen Äußerungen Debussys, die eine geistige Nähe zur Welt des malerischen Impressionismus suggerierten. Aufgefordert, die musikalischen Eigenheiten fremder und eigener Werke in Worte zu fassen, verrieten die Gedanken des Komponisten stets die offenkundige Neigung, Partituren wie Gemälde zu beschreiben. Auch der erste Eindruck seiner überwiegend bildlich betitelten Kompositionen lässt vermuten, dass in Debussys Musik der Klang eine ähnlich prägende Rolle übernimmt wie die Farbe im Werk der malerischen Impressionisten.
Debussy selbst hat sich dagegen niemals als Impressionist bezeichnet, war er doch stets von einem gesunden Misstrauen gegenüber einer Etikettierung durchdrungen, die seine vielschichtige Musik auf eher oberflächliche Korrespondenzen zu einem völlig anders operierenden Kunstmedium hin zu verkürzen suchte. Die klischeehafte Vorstellung von wechselnden Klangflächen, die wie nasse Farben ineinanderlaufen, geht an Debussys tatsächlichen kompositorischen Innovationen weit vorbei, denn jene traumhafte Sinnlichkeit, die seine Musik zuweilen impressionistisch erscheinen lässt, ist immer mit einer wachen Vorstellung von Form, Nuance und interner Logik verschmolzen.
Statt zu der Bequemlichkeit zu verleiten, alle Werke Debussys unter derselben einseitigen Optik zu beurteilen, könnte somit der weit verbreitete stilistische Stempel des musikalischen Impressionisten vielmehr dazu anregen, sich auf eine reizvolle Auseinandersetzung mit den individuellen Mischungsverhältnissen aus Traum und Wachheit in der Zeichnung einer jeden Komposition einzulassen.
1 vgl. Claude Debussy: Monsieur Croche. Sämtliche Schriften und Interviews, hg. von François Lesure, aus dem Frz. von Josef Häusler, Stuttgart 1974, S. 264.
Lesen Sie weiter in Ausgabe 3/2011.