© Pol Maria_www.stock.adobe.com

Rüdiger, Wolfgang

Geist und Gefühl

Die Bedeutung der Hand für Mensch und Musik

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 5/2019 , Seite 06

Mit einem erhobenen Zeigefinger beginnt Jean-Luc Godards jüngster Film „Le Livre d’Images“ (2018): zent­rales Detail aus Leonardo da Vincis Gemälde „Johannes der Täufer“ (1513-1516). Danach: Godards Hände am Schneidetisch, mit einer Filmrolle hantierend, kommentiert von der rauen Stimme des Regisseurs: „Da sind die fünf Finger. Die fünf Sinne. Die fünf Erdteile. Ja, die fünf Feen­finger. Aber alle zusammen formen die Hand. Und mit den Händen zu denken, ist die wahre Bestimmung des Menschen.“

Welch fulminanter Einstieg in einen Film, der ins Herz unserer Thematik führt: in das Musizieren und Erlernen von Instrumentalspiel und Gesang. Denn die „wahre Bestimmung des Menschen“, „mit den Händen zu denken“, erfüllt sich wie bei Ärzten, Hebammen, Handwerkern, Malern auf besondere Weise im Spie­len von Instrumenten. Ursprünglicher noch spielt das „handelnde Sinnesorgan“1 in der frühkindlichen Entwicklung und Erkundung der Welt durch Tasten und Greifen, beim Sprechenlernen und Singen eine zent­rale Rolle: Man denke an die Zeigegesten, die der Sprache vorangehen, und an die Vielfalt rede- und gesangbegleitender Handbewegungen, mit denen Sängerinnen und Rhetoren ihre Klänge modellieren, als läge in der Hand die Schönheit von Vokal und Wort.
Doch was bedeutet es, mit den Händen zu denken? Sind kognitive Leistungen nicht eine Sache des Kopfes und Hände Handlanger des Gehirns? Machen wir uns bewusst, was Musiker tun, wenn sie täglich zum Instrument greifen, üben, spielen, so werden wir eines Besseren belehrt. Bei jedem Kontakt mit dem Klavier, der Geige, der Oboe offenbart sich ein faszinierendes Wechselspiel von Hand und Hirn, das in die Frühgeschichte des Menschen zurückweist und zeigt, dass die Hand das Hirn ebenso formt, wie das Hirn die Hand führt.

Die „wahre Bestimmung des Menschen“, „mit den Händen zu denken“, erfüllt sich auf besondere Weise im Spie­len von Instrumenten.

Allein die Vorbereitung auf das Üben, in meinem Fall Fagott, erweist sich als wahrer Pas de deux der Hände: Mit rechts nehme ich die Bassröhre aus dem Kasten und übergebe sie der linken Hand (Klemmgriff mit gegenübergestelltem Daumen), ergreife den Flügel und schmiege ihn der Stange an, halte beide Teile mit rechts zusammen (langer, kräftiger Daumen), um mit Zeigefinger und Daumen links (Spitzgriff) den Zusam­menhalter zu befestigen; dann schiebe ich mit beiden Händen die Zapfen von Stange und Flügel in den mit rechts bereitgehaltenen Stiefel; und wenn das Instrument am Körper liegt und auf der Fingerwurzel des linken Zeigefingers ruht, ertaste ich die Tonlöcher- und Klappenlandschaft, blase mit sanft gebogenen Fingern das große G und erzeuge im festeren Zugriff (wenn etwas nicht ganz deckt) einen kleinen Abdruck auf den Kuppen. Und weiter geht’s mit all den Klang-, Finger-, Zunge-Übungen, die den Daumen links auf zehn Klappen turnen lassen, eine hohe Unabhängigkeit der leicht beweglichen Finger erfordern und eine immense Schnelligkeit bei minimalem Kraftaufwand entfalten.
Dies alles aber denke nicht „ich“, sondern dies denken meine erfahrenen Hände, die mit dem Hirn „Hand in Hand“ arbeiten und seine sensomotorischen Felder immer wieder umformen und erweitern, z. B. wenn in zeitgenössischen Werken Griffmuster verlangt werden, die neu zu erlernen und zu üben sind – eine Anpassungsleistung, die Hand, Herz und Hirn wach hält bis ins hohe Alter.

1. Hand und Hirn

Die hochentwickelte Fähigkeit, die ich hier beschrieben habe, ist eine relativ junge Errungenschaft. Zusammen mit anderen kulturellen Leistungen markiert sie einen vorläufigen Höhepunkt in der Entwicklungsgeschichte unserer Gattung und ruht auf dem Grunde entscheidender Weichenstellungen der Evolution. In den Tiefenschichten unseres Körperwissens angesiedelt, wird das evolutionäre Erbe kluger, kraftvoller, feinfühliger und geschickter Hände in jedem Einzelnen stets aufs Neue aktiviert und in jedem artikulierten Klang lebendig.2
Am Anfang steht der aufrechte Gang, ermöglicht durch eine Umgestaltung des Fußes von einem Greif- zu einem schmalen Geh- und Lauffuß mit ausgeprägten Großzehen. Damit aber ging etwas Entscheidendes einher: die Befreiung der Hand von der vierfüßigen Fortbewegung, gestützt auf den Rücken der gekrümmten Finger, wie sie für Menschenaffen typisch ist. Durch diese Emanzipation konnten „die vorderen Gliedmaßen […] neue Fertigkeiten wie Greifen, Manipulieren und auch das Werfen von Gegenständen entwickeln“,3 bis zur Erfindung und Herstellung von Werkzeugen, die die Überlebenschancen erhöhten und neue Handlungsmöglichkeiten eröffneten. Dafür bedurfte es der Entwicklung einer weiteren Besonderheit: der sogenannten „ulnaren Opposition, der Daumenbewegung in Richtung des Kleinfingers und umgekehrt“,4 mit deren Hilfe die wichtigsten Griffe der menschlichen Hand möglich wurden.
Die gesteigerte Werkzeugverwendung sowie zunehmende Gruppenaktivitäten unserer Vor­fahren gingen einher mit einer zunehmenden Entwicklung von Volumen, Form und Funktion des Gehirns bis zum Übergang vom Homo erectus zum Homo sapiens vor ca. 200000 Jahren. Das aber bedeutet kurz und bündig: „Die Evolution der Hand und ihrer Kontrollmechanismen sind entscheidende Faktoren für die Organisation unserer kognitiven Architektur und geistigen Funktionen.“5

1 Martin Weinmann: „Hand und Hirn“, in: Marco Wehr/ Martin Weinmann (Hg.): Die Hand. Werkzeug des Geis­tes, Heidelberg 1999, S. 18.
2 Nach der Hypothese des Psychologen und Kognitionswissenschaftlers Merlin Donald, vgl. Frank R. Wilson: Die Hand – Geniestreich der Evolution. Ihr Einfluss auf Gehirn, Sprache und Kultur des Menschen, Stuttgart 2000, S. 51 f.
3 Weinmann, a. a. O., S. 46.
4 Wilson, a. a. O., S. 36. „Wie sehr die Gegenüberstellung von Fingern und Daumen dazu beigetragen hat, den Menschen von den übrigen Primaten zu unterscheiden, kann man gar nicht genug betonen.“ John Napier, zitiert nach ebd., S. 143.
5 ebd., S. 306 f.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 5/2019.