Klier, Johannes

Genauigkeit von Details

Manuel de Fallas Gitarrenkomposition „Homenaje a Debussy“

Rubrik: Forschung
erschienen in: üben & musizieren 4/2022 , Seite 53

Das Autograf von Manuel de Fallas Gitarrenkomposition „Homenaje a Debussy“ galt lange als verschollen, was jahrzehntelang eine verwirrende Anzahl verschiedenster Editionen zur Folge hatte. Vor einigen Jahren wurde das Autograf im Archivo Manuel de Falla in Granada entdeckt. Nun ­konnte eine sorgfältig edierte Urtextausga­be vorgelegt werden.1

Manuel de Falla (1876-1946) hat einige der schönsten Gitarrenkompositionen geschaffen. Ist das nicht eine absurde Behauptung? Schließlich hat er doch – mit einer einzigen Ausnahme – nicht für Gitarre komponiert, sondern für Orchester oder Klavier oder für alle beide. Aber hört man das Orchester mit der Danza del molinero (Farruca) aus dem Ballett El sombrero de tres picos denkt man unmittelbar an Gitarrenmusik, ebenso bei vielen der Tänze aus El amor brujo. Selbst die Danza aus La vida breve klingt wie eine für großes Orchester bearbeitete Gitarrenkomposition.
De Fallas einzige Originalkomposition für Gitarre ist seine Homenaje a Debussy – die erste Komposition, die er 1920 in Granada schuf. Ein Jahr zuvor waren seine Eltern gestorben und er siedelte mit seiner Schwester nach Granada um. Hier begann die reife Phase seines Komponistenlebens – die Entwicklung vom nationalspanischen Erbe der Zarzuela zu einer universellen Musiksprache Spaniens.
Von 1907 bis 1914 hatte de Falla in Paris gelebt, um dort die neuesten musikalischen Entwicklungen kennenzulernen. Er fand Eingang in die wichtigsten Künstlerkreise und befreundete sich mit Claude Debussy, Maurice Ravel, Paul Dukas und Isaac Albéniz. Besonders Debussy und seine Musik übten nachhaltigen Einfluss auf sein kompositorisches Schaffen aus. Als Debussy am 23. März 1918 starb, wurde er von einer großen Anhängerschaft betrauert, zu der natürlich auch Manuel de Falla gehörte. Bereits am 27. April 1918 wirkte er bei einem Konzert zu Ehren von Debussy im Madrider Ateneo mit. Dort hielt er auch eine Rede, die bereits wesentliche Teile seines späteren Essays „Claude Debussy et l’Espagne“ enthielt. 1920 schließlich folgte seine Komposition Homenaje a Debussy.

Das Autograf

Das erst vor wenigen Jahren aufgetauchte Manuskript der Homenaje nennt als Schaffensphase den Zeitraum vom 27. Juli bis 8. August 1920. Das geht aus dem handschriftlichen Vermerk des Komponisten auf Seite 2 des Manuskripts hervor:

M. de Falla
25 julio
8 agosto [1]9202

Mit der Komposition erfüllte Manuel de Falla einen Wunsch von Henry Prunières, Herausgeber von La Revue Musicale.3 Am 4. Februar 1920 hatte dieser brieflich bei de Falla angefragt, ob er einen Beitrag über Claude Debussy für die geplante Sonderausgabe der Revue Musicale verfassen würde. Ende Mai bis Anfang Juni 1920 weilte de Falla in Paris und traf sich dort mit Henry Prunières. Gern erklärte er sich bereit, den gewünschten Beitrag „Claude Debussy et l’Espagne“ zu verfassen, den er Prunières am 8. November 1920 aushändigte. Von der bereits im August vollendeten Gitarrenkomposition Homenaje a Debussy hatte Henry Prunières schon am 6. Oktober 1920 eine Kopie erhalten.
Unter den Komponisten für die Musikbeilage „Le tombeau de Debussy“ in dieser Sonderausgabe war Manuel de Falla der einzige, der ein Stück für Gitarre komponiert hatte. Damit erfüllte er gleichzeitig einen Wunsch des katalanischen Gitarristen und Freundes Miguel Llobet (1878-1938). Das kleine Werk wurde in Llobets Überarbeitung als Nr. IX in die Musikbeilage aufgenommen.
Am 1. Dezember 1920 erschien die umfangreiche Sonderausgabe „Numéro spécial consacré à DEBUSSY“ von La Revue Musicale –dem Andenken des 1918 verstorbenen Claude Debussy gewidmet – unter der No. 2 des 1. Jahrgangs. Ihr Inhalt besteht aus einer Reihe von Textbeiträgen zu Claude Debussy sowie einer Musikbeilage („Supplément Musical“) mit dem Titel „Le tombeau de Debussy“, die zehn eigens für diese Ausgabe komponierte Musikstücke enthält. Die Liste der Namen liest sich wie das Who-is-who der damaligen Komponistenelite, darunter Paul Dukas, Albert Roussel, Béla Bartók, Igor Strawinsky, Maurice Ravel, Erik Satie und Manuel de Falla.
Vergleicht man Miguel Llobets Erstausgabe mit dem Autograf, stellt man fest, dass Llobet einige Änderungen am Urtext vorgenommen hat – unnötigerweise, wie ich meine, denn de Fallas Notentext ist ohne Änderungen spielbar. Llobet fügte zahlreiche Flageolett-Töne und Glissandi hinzu, nahm Oktavierungen vor und ließ einige wichtige Hinweise des Komponisten zu Artikulation und Dynamik weg. Das zweiseitige Autograf trägt den Titel Homenaje a Debussy. Der von den Herausgebern hinzugefügte Untertitel „Pièce de guitare écrite pour ,Le tombeau de Debussy‘“ existiert im Manuskript nicht. Trotzdem haben Generationen von Herausgebern diesen nicht authentischen Zusatz ihren Editionen hinzugefügt. Der Satz besagt aber nur, dass die vorliegende Komposition ein Werk für Gitarre ist, geschrieben für „Le tombeau de Debussy“.
Auf der ersten Seite des Manuskripts finden wir zwei handschriftliche Notizen von Manuel de Falla. Dort schreibt er gut lesbar auf Französisch:

Les sons marqués d’une + doisent être accentués et légèrement retenus. (Die mit einem + markierten Noten müssen akzentuiert und leicht zurückgehalten werden.)

Diesen Interpretationshinweis finden wir auch in der von Miguel Llobet redigierten Erstausgabe von 1920. Auf derselben Seite hat de Falla einen sehr schwer lesbaren Hinweis in Spanisch notiert:

Algunas notas más pueden en el confrontamiento semejar para/por le conservar el zumbado hermoso nuevo del tonal lineamento. (Ein paar zusätzliche Noten können klanglich zu der Komposition passen, um mit dem schönen neuen Klang den Charakter des Stücks zu bewahren.)

Dieser wichtige Hinweis wurde von Manuel de Falla sehr wahrscheinlich erst nach der gemeinsamen Arbeit mit Miguel Llobet an der Homenaje in Granada eingetragen. Bedauerlicherweise taucht er in keiner der bisherigen Ausgaben der Komposition auf. In seiner eilig hingeworfenen Schreibweise scheint er die freudige Erregung nach der gelungenen Zusammenarbeit mit Llobet widerzuspiegeln.

Die Uraufführung

Henry Prunières schreibt am 6. Januar 1921 an de Falla, dass in Ermangelung eines Gitarristen die Uraufführung des Werks4 am 24. Januar 1921 durch die Harfenistin Marie Louise Casadesus (1892-1970) auf der sogenannten Arpa-laúd gespielt werde, deren Klang dem der Gitarre ähnlich sei. De Falla schickte ihm daraufhin die Klavierfassung der Homenaje, die er bereits im August 1920 nach der Gitarrenfassung erstellt hatte.
Wann und wo die erste Gitarrenaufführung der Homenaje stattfand, ist heute nicht mehr eindeutig zu klären. J. B. Trend, Musikkritiker der Times und enger Freund de Fallas, versicherte aber glaubhaft, dass die erste Aufführung im Herbst 1920 im Haus des Komponisten in Granada in privatem Rahmen stattgefunden habe. Es ist bislang nicht bekannt, welcher Gitarrist diese private Uraufführung gespielt hat, man vermutet jedoch, dass es sich dabei um Ángel Barrios (1882-1964) handelte, einen Komponisten und Konzertgitarristen aus Granada. Auf Rat seines Freunds Paul Dukas hatte de Falla ihn mehrfach um Hilfe gebeten, um die Gitarre und ihre Möglichkeiten genauer kennenzulernen. In den Unterlagen von Barrios wurde nach seinem Tod eine korrigierte Kopie der Homenaje gefunden.
Es war aber Miguel Llobet, der am 13. Februar 1921 im Teatro Principal von Burgos die offizielle Uraufführung spielte. Kurz zuvor hatte er de Falla in Granada besucht, um dessen Meinung zur Interpretation der Homenaje einzuholen. De Falla war bekannt dafür, dass er größten Wert auf eine penibel genaue Umsetzung des Notentextes und seiner musi­kalischen Vortragsbezeichnungen bezüglich Tempo, Dynamik etc. legte. Und so arbeitete er mit Miguel Llobet akribisch und äußerst genau das Stück Takt für Takt durch, um letztendlich die Interpretation zu erhalten, die ihm vorschwebte.
In einem Interview mit dem Llobet-Schüler Rey de la Torre erfahren wir mehr von jenem Treffen: „Jedenfalls ist die chronologische Entstehung dieses Stücks in der Korrespondenz zwischen Llobet und Falla enthalten, die sich im Besitz von Fallas Schwester befindet. Als das Stück praktisch vollendet war, trafen sich beide in Granada im Haus der Familie Garcia Lorcas. (Das hörte ich vom Bruder Federicos, Francisco.) Es gab dort immer Treffen mit allen möglichen Künstlern, Schriftstellern usw. und Llobet und Falla waren dort und zogen sich in ein kleines Zimmer zurück und begannen zu arbeiten. Zu diesem Zeitpunkt war das Werk fast vollendet und die Arbeit drehte sich um die finalen Angaben zu Veränderungen der Dynamik.
Wie du weißt, war es Falla sehr um die Genauigkeit von Details zu tun. Ob bei einem Orchesterwerk oder einer Postkarte – er war immer präzise. Es entbehrte nicht einer gewissen Komik, wenn man Llobet und Falla von Anfang an bei der Arbeit in diesem Zimmer zuhörte, schrieb er doch für die fa, mi, fa, mi, fa Noten piano vor. Doch der Akkord kann forte enden. Es war nicht so sehr das Volumen als vielmehr die Gewichtigkeit, die er darin suchte. Er duzte Llobet, nannte ihn beim Vornamen: ‚Nein Miguel, ich möchte mehr… das ist nicht genug‘ und Llobet folgte ihm. Sie verbrachten eine halbe Stunde bei diesem ersten Takt und fanden schließlich zusammen.“5
Nachdem Manuel de Falla seine Homenaje a Debussy vollendet und sich intensiv mit der Gitarre befasst hatte, war er von ihren Möglichkeiten fasziniert. In seinem Brief an Miguel Llobet vom 24. August 1920 schreibt er von seinem Plan, zwei weitere Werke für Gitarre zu komponieren:6

„Mein lieber Freund,
ganz herzlichen Dank für Ihren liebenswürdigen Brief, die Übersendung des Stücks und die wertvollen Hinweise, die Sie mir diesbezüglich gewähren und die ich natürlich in die Kopie einschließe, die ich nach Paris schicke. Ich beeile mich, Ihnen mitzuteilen, dass Sie alle Zweifel, die ich hatte, glänzend gelöst haben: von Takt 22 sowie auch die Interpretationen der Soirée-Zitate. Was Takt 61 betrifft, sollte es ein G sein. Dasselbe wie beim ersten Mal. Tausend Dank für Ihre Worte über das Notenbeispiel, wenn es erst in der separaten und endgültigen Fassung veröffentlicht sein wird. Ich verehre Sie als menschlich hochstehende Persönlichkeit und bringe Ihnen und Ihrer Kunst große Bewunderung entgegen. Ihr letzter Brief hat mir so viel Freude bereitet und hat mich so sehr inspiriert, weiter für die Gitarre zu schreiben, dass ich nicht nur eines, sondern zwei Stücke für Sie in Angriff genommen habe. Natürlich richte ich mich stark nach allem, was Sie mir gesagt haben, und bald werde ich Ihnen mehr Einzelheiten über die besagten Stücke berichten, die ich mit wahrer Lust schreibe, derselben, mit der ich mich schon jetzt freue, die Homenaje von Ihnen zu hören. Die vollständige Sammlung der Tombeaux wird innerhalb der nächsten zwei Monate in der ersten von Henry Prunières herausgegebenen Nummer der Revue Musicale erscheinen. Selbstverständlich werde ich sie Ihnen schicken. Meine besten Grüße an Ihre Gattin und eine herzliche Umarmung in Freundschaft und Bewunderung
Manuel de Falla“

Miguel Llobet antwortete am 27. August 1920 begeistert:7 „Lieber Falla, verrückt vor Freude lese ich, dass Du noch zwei Stücke für Gitarre komponieren willst!! – Schreibe mir, wenn Du Fragen hast –“
Tatsächlich sind einige Skizzen zu diesen geplanten Gitarrenkompositionen überliefert, aber die Pläne wurden leider nie verwirklicht. De Falla ist 1939 nach Argentinien ausgewandert und dort 1946 gestorben.

1 de Falla, Manuel: Homenaje a Debussy für Gitarre, ­Urtext, hg. von Johannes Klier, Mainz 2021.
2 Im Autograf steht „920“, eine verkürzte Schreibweise des Komponisten.
3 La Revue Musicale war eine Musikzeitschrift, die von Henry Prunières (1886-1942) und André Cœuroy (1891-1976) 1920 gegründet wurde. Die erste Ausgabe erschien am 1. November 1920, die letzte im April 1940.
4 Das Konzert fand in der Salle des Agriculteurs in Paris statt anlässlich einer Veranstaltung der Société Musicale Indépendante. Auf dem Programm standen alle zehn Kompositionen der Musikbeilage dieser Sonderausgabe von La Revue Musicale.
5 Rey de la Torre discusses Manuel de Falla’s Homage to Debussy, A Master Lesson with Rey de la Torre, taped in the form of a conversation with Walter Spalding, September 1976, www.guitarist.com/rey-de-la-torre-discusses-manuel-de (Stand: 28.6.2022).
6 Míguez de la Rosa, Santiago: „Unpublished corres­pondence from Manuel de Falla to Miguel Llobet“, 29.8.2020, www.flamencoguitarsforsale.net/en/unpublished-correspondence-from-manuel-de-falla-to-miguel-llobet (Stand: 28.6.2022).
7 ebd.

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