Ehrenforth, Karl Heinrich

Geschichte der musikalischen Bildung

Eine Kultur-, Sozial- und Ideengeschichte in 40 Stationen. Von den antiken Hochkulturen bis zur Gegenwart

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Schott, Mainz 2005
erschienen in: üben & musizieren 4/2006 , Seite 64

Angesichts der grassierenden desaströsen Unterfinanzierung des Musikunterrichts sowie vieler verantwortungsloser Kahlschläge im öffentlichen Musikleben neigen bildungs- und kulturpolitische Verlautbarungen hierzulande gegenwärtig zu Pamphletismus und schlagwortartigen Verkürzungen. In diesem Zusammenhang wirkt das Buch von Karl Heinrich Ehrenforth als eine eminente wissenschaftliche Wohltat: Es schafft eine material- und gedankenreiche Grundlage für aktualisieren-de Bemühungen um die Bewahrung und Entwicklung musikalischer Bildung, indem es tief und gründlich deren Geschichte auslotet.
Mit langem Atem hat der Autor in diesem Buch ein Lebensthema seiner Tätigkeit als Lehrer und Wissenschaftler ausgearbeitet. Die 40 „Stationen“ seiner Reise durch die Geschichte der musikalischen Bildung gruppiert Ehrenforth in zehn Blöcke, in denen
der Grundriss seiner geschichtlichen Strukturierung greifbar wird: I. Außereuropäische Früh- und Hochkulturen, II. Die europäische Antike – Vom Mythos zum Logos, III. Musik im Dienst des jüdisch-christlichen Gotteslobs, IV. Zwischen Logos und Fides – Was ist christliche Bildung?, V. Auf dem Weg in das Mittelalter: Monte Cassino – Rom – Aachen, VI. Ars und Usus – Musikalische Bildung und Erziehung im Mittelalter, VII. Aufbruch in die Neuzeit – Von Martin Luther zu Johann Sebastian Bach, VIII. Vom 18. zum 19. Jahrhundert – Musikalische Bildung und Erziehung zwischen Aufklärung, Neuhumanismus und Nationalismus, IX. Das 19. Jahrhundert – Musikalische Volksbildung zwischen Idee und Realität, X. Brüche und Brücken – Musikerziehung im 20. Jahrhundert.
Diese Gliederung zeigt, dass Ehrenforth die Epochen von der Antike bis zur Neuzeit keineswegs als Ouvertüre späterer Entwicklungen auffasst. Vielmehr liegt ihm daran, gerade auch die in früheren Darstellungen musikalischer Bildungsgeschichte meist perspektivisch stark verkürzten Zeiträume differenziert zu erhellen. Die Folge dieses Geschichtsbildes ist eine überraschende Akzentverschiebung: Die ältere Vergangenheit erscheint in ungewohnter Fülle, während das in seiner material- und problemgeschichtlichen Nähe so vielfältige 20. Jahrhundert in klaren, auf die Hauptzüge konzentrierten Konturen gezeichnet ist.
Als „Kultur-, Sozial- und Ideengeschichte“ geht es in Ehrenforths Buch nicht nur unmittelbar um Musik. Die inhaltliche Weite, die der Untertitel andeutet, ist allerdings keine additive Verbreiterung des Gegenstands, sondern sie liegt in ihm selbst begründet: in der Tatsache nämlich, dass „Musik immer mehr ist als nur Musik“ (S. 16). Die Konsequenz für seine Theorie einer musikalischen Bildung sieht Ehrenforth darin, „dass, weil Musik immer mehr ist als sie selbst, auch Musikerziehung ihre fachlichen Ziele notgedrungen überschreiten muss“
(S. 67). In musikalischer Bildung erschließt sich somit die Musik in ihrer Verwobenheit in die geschichtlichen Bedingungen der jeweiligen Zeit. Musikalische Bildung erscheint gleichsam als ein weit geöffnetes Fenster zur Welt.
Besondere Sorgfalt schenkt Ehrenforth den vielfältigen Wandlungen der Bezüge von Musik und Religion. Geradezu als ein roter Faden seiner Erkundungsreise gilt ihm die Aufarbeitung der Säkularisierung von sakral verwurzelter Musik wie auch (in der Moderne) umgekehrt der Sakralisierung von säkularen Musikarten und Umgangsweisen mit Musik. Dass Ehrenforth nicht nur Musikwissenschaftler und -pädagoge, sondern von Haus aus auch Theologe ist, zeigt sich bei der Lektüre auf Schritt und Tritt. Die zahlreichen Diskurse zum Verhältnis von Musik und Religion gehören zu den besonders gelungenen Partien des Buchs.
Ein schier unermessliches Projekt wie der Versuch eines einzelnen Autors, die Geschichte der musikalischen Bildung aufzuarbeiten, zeigt notwendigerweise perspektivische Begrenztheiten. Dies ist einerseits eine Stärke, weil so die vielen Entwicklungsstationen problemgeschichtliche und darstellerische Kohärenz gewinnen; zum anderen bedingt der begrenzte Blickwinkel, dass weite Bereiche der Landschaften musikalischer Bildung nicht sichtbar werden. Ehrenforth beginnt zwar mit drei Stationen, die er mit „Außereuropäische Früh- und Hochkulturen“ überschreibt; durchweg aber ist sein Buch (wie bereits das Wort „außereuropäisch“ signalisiert) eurozentrisch ausgerichtet und großenteils auf den deutschsprachigen Raum begrenzt. Angesichts der unübersehbaren Stofffülle und der Darstellungsprobleme einer interkulturell ausgerichteten Geschichte erscheint diese Begrenzung plausibel. Der „totalitäre“ Titel allerdings erweckt andere Erwartungen.
Ehrenforth ist eine überaus gründliche, vielseitige, klar konzipierte Darstellung einer abendländisch orientierten und deutsch fokussierten musikalischen Bildungsgeschichte gelungen. In der Tat lässt sich der Band nicht nur als kulturhistorisches und musikpädagogisches Fachbuch studieren, sondern seiner Intention gemäß auch als Lesebuch verwenden – und genießen. Die gediegene Ausstattung, die schöne, instruktive Bebilderung, etliche Zeittafeln sowie die zahlreichen konzisen Zusammenfassungen des Autors machen die Lektüre zu einer Freude. Gewiss wird dieses exzellente Buch bald den Rang eines Standardwerks haben.
Ulrich Mahlert

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