Simon, Jürgen

Gewaltige Probleme

Gegen die finanzielle Katastrophe bei Berufsunfähigkeit können ­Versicherungen schützen – eigentlich

Rubrik: musikschule )) DIREKT
erschienen in: üben & musizieren 2/2014 , musikschule )) DIREKT, Seite 05

Die Versicherungswirtschaft bietet eine Vielzahl von Versicherungen gegen alle möglichen Gefahren und Risiken an. Auf viele dieser Versicherungen kann man getrost verzichten, da sie oft Bagatellschäden versichern, die in der Regel niemanden ruinieren. Ein ganz anderer Fall sind Versicherungen gegen Berufsunfähigkeit. Nachdem ausgerechnet die damalige rot-grüne Bundesregierung die Berufsunfähigkeitsrente ab dem Jahr 2001 für alle nach dem 1.1.1961 Geborenen abgeschafft hat, stehen viele Menschen im Fall einer Berufsunfähigkeit vollkommen ungeschützt da.

Begriffsklärung

Eine Absicherung gegen Berufsunfähigkeit kann nicht mit der Absicherung gegen Erwerbsminderung verglichen werden, die heute durch die Erwerbsminderungsrente zumindest auf einem sehr niedrigen finanziellen Niveau von der Rentenversicherung übernommen wird. Die Berufsunfähigkeit bezieht sich auf den erlernten bzw. ausgeübten Beruf, der für die Frage einer Erwerbsminderung völlig irrelevant ist. Konkret: Wenn ein Geiger eine chronische Sehnenentzündung im linken kleinen Finger hat, ist er berufsunfähig – er kann nicht mehr Geige spielen. Wohingegen eine Erwerbsminderung erst dann vorläge, wenn unser Geiger keine wie auch immer ge­artete Tätigkeit mindestens drei Stunden täglich (drei bis sechs Stunden für teilweise Erwerbsminderung) ausüben könnte. Dabei gibt es keine Grenzen in der Frage, welche Arbeit ausgeübt werden muss und wie gering die Bezahlung für diese Arbeit sein darf. Auch die Frage, ob der Geiger überhaupt eine Arbeit findet, spielt in diesem Fall keine Rolle, er wäre dann eben arbeitslos, aber nicht erwerbsunfähig.
Wer sich gegen Berufsunfähigkeit absichern will, muss dies also bei privaten Anbietern tun, und er trägt die Kosten in der Regel allein. Allenfalls bei der Steuer können die Beiträge unter bestimmten Bedingungen geltend gemacht werden.

Für wen?

Grundsätzlich ist eine Berufsunfähigkeitsversicherung für jeden, der arbeiten muss, sinnvoll. Da solche Versicherungen aber ziemlich kostspielig sind, sollte jeder überlegen, ob er die Versicherung wirklich braucht. Dabei ist die erste und wichtigste Frage, was passiert, wenn das Einkommen wegfällt. Handelt es sich bei dem Einkommen um das Haupteinkommen, das dringend zum Leben benötigt wird, dann ist eine solche Versicherung sehr wünschenswert. Aber auch die Höhe des Verdienstes und der damit einhergehende Lebensstandard sind ein Kriterium. Wer als prekär beschäftigte Honorarkraft an einer Musikschule ohnehin kaum über den Hartz-IV- Satz kommt, hat im Fall einer Berufsunfähigkeit – davon abgesehen, dass er sich ei­ne solche Versicherung gar nicht wird leisten können – wenig zu verlieren. Wer hingegen mit seinem Einkommen eine Familie und womöglich ein Häuschen im Grünen unterhalten muss, für den kann eine Berufsunfähigkeit leicht zur wirtschaftlichen Katastrophe werden.

Warum nicht?

Für KünstlerInnen und Lehrkräfte ist es sehr schwer, überhaupt eine Versicherung zu finden, die sie versichert. Dies stellt der Versicherungsmakler Helge Kühl im Handelsblatt fest.1 Und falls es gelingt, eine Versicherung zu finden, sind die Kosten für diese Berufe exorbitant. Die Versicherer teilen die Berufe in verschiedene Risikoklassen ein. Diese Einteilung ist ausschließlich am Risiko der Versicherung, zahlen zu müssen, orientiert. So kommt es, dass Musiker ebenso wie Schornstein­feger in die höchste Gefahrenklasse eingestuft werden. Dies ist nicht durch die ­Gefahren des Musikerberufs begründet – Musiker pflegen nicht von Dächern zu fallen –, sondern der Tatsache geschuldet, dass Musiker bereits mit ganz geringen gesundheitlichen Problemen berufsunfähig werden können. Diese Probleme sind oft so gering, dass sie – siehe unser obiges Beispiel mit dem entzündeten Finger – nicht einmal ohne Weiteres zweifelsfrei diagnostiziert werden können.
In Heft 7/2013 der Zeitschrift Finanztest wurden verschiedene Versicherungen anhand dreier Modellkunden getestet. Dabei wurden vor allem die Versicherungsbedingungen, die Qualität der Anträge und natürlich die Preise verglichen. Allerdings wurde nur in der niedrigsten Risikoklasse ein Vertrag ohne Einschränkungen untersucht; bereits dort kostet eine Absicherung, die eine monatliche Rente von 2000 Euro erbringen würde, zwischen 1000 und 2000 Euro im Jahr. Für die höchste Risiko­klasse wurden überhaupt keine Werte ermittelt. Für alle übrigen Risikoklassen wurden nur Verträge mit einer Einschränkung der Laufzeit bis zum 60. Lebensjahr getestet, um die Kosten in einem akzeptab­len Rahmen zu halten. Eine später eintretende Berufsunfähigkeit wäre dann nicht mehr versichert.

Sehr jung, sehr gesund!

Ein weiterer Kostenfaktor sind Alter und Gesundheitszustand. Im Idealfall sollte man seinen Vertrag bereits zu Beginn des Studiums abschließen. Da die Versicherungen zumindest bei den guten Tarifen die Möglichkeit bieten, die Versicherungssumme auch nachträglich bis zu einem ­gewissen Grad ohne weitere Gesundheitsprüfungen zu erhöhen, ist ein so frühzeitiger Abschluss nicht so abwegig, wie es zunächst erscheinen mag, denn mit steigendem Eintrittsalter steigen auch die Beiträge enorm an.
Auch der Gesundheitszustand spielt eine erhebliche Rolle dafür, ob überhaupt, mit welchen Einschränkungen und zu welchen Konditionen man einen Vertrag abschließen kann. Selbst triviale Erkrankungen wie Akne oder Heuschnupfen können zu Vertragseinschränkungen oder Risikozuschlägen führen. Bei gravierenderen Vorerkrankungen wie chronischer Bronchitis oder psychischen Erkrankungen ist sogar mit einer Ablehnung zu rechnen.
Die Angaben zum Gesundheitszustand sind einer der kritischsten Bereiche beim Abschluss einer Versicherung. Den Anträgen sind umfangreiche Fragebögen zum Gesundheitszustand und zu Vorerkrankungen beigefügt. Oft sind diese Fragen so detailliert, dass sie ohne ärztliche Hilfe kaum ausgefüllt werden können. Es ist durchaus empfehlenswert, diesen Fragebogen mit den eigenen Ärzten durchzugehen. Denn die Versicherungen akzeptieren die eingereichten Fragebögen in der Regel ohne weitere Nachfragen. Erst wenn der Ver­sicherungsfall eintritt, prüft die Versicherung sehr akribisch, ob die beim Vertragsabschluss gemachten Angaben absolut korrekt und vollständig waren. Es geht bei Berufsun­fähigkeitsversicherungen schließlich um enorme Summen, die die Versicherungen bezahlen müssen.

Berufsunfähig!

Wenn ein Versicherter z. B. mit 50 Jahren berufsunfähig wird und eine Rente von 2000 Euro im Monat bekommt, dann kostet das die Versicherung bis zum Renteneintritt weit über 400000 Euro. Da Versicherungen auch nach jahrelang hingezogenen Prozessen nicht mehr bezahlen müssen, als im Vertrag maximal vereinbart ist, häufig jedoch am Ende eines Prozesses ein für sie deutlich preiswerterer Vergleich steht, lohnt es sich für sie, jeden Anspruch erst einmal abzuweisen. Hingegen steht der Betroffene häufig ohne Einkommen und Unterstützung da, und die Zeit spielt den Versicherern in die Hände.2
Es muss sich also jeder Versicherte, der die Leistung im Fall einer Berufsunfähigkeit in Anspruch nehmen will, darauf einstellen, umfangreiche Auseinandersetzungen mit seiner Versicherung führen zu müssen, sofern er nicht gerade beide Arme und Beine eingebüßt hat. Solche Auseinandersetzungen können nicht nur langwierig und zermürbend sein – gerade in einer Zeit, in der man aufgrund der eingetretenen Berufs­unfähigkeit ohnehin stark belastet ist –, sie können auch extrem kostspielig werden. Nicht selten werden zahlreiche Gutachter benötigt, und ohne Rechtsanwalt sind solche Auseinandersetzungen unmöglich zu führen.
Für diesen Fall ist eine Rechtsschutzversicherung von enormer Bedeutung. Allerdings lauern auch hier wieder einige Tücken. Rechtsschutzversicherungen treten nicht für Streitigkeiten ein, deren Ursache vor Vertragsabschluss liegt. Dies kann zu Problemen führen, wenn die Rechtsschutz­versicherung erst nach dem Abschluss der Berufsunfähigkeitsversicherung erfolgt, denn in diesem Fall gilt in der Regel der Abschluss der Berufsunfähigkeitsversicherung als „schadenauslösendes Ereignis“. Auch bei einem Wechsel der Rechtsschutzversicherung kann es zu Problemen kommen, zumindest, wenn der Wechsel nicht nahtlos erfolgt.

Alternativen

Wer sich keine „richtige“ Berufsunfähigkeitsversicherung leisten kann, sucht eventuell eine preiswertere Alternative. Allerdings sind diese Alternativen in den seltensten Fällen ein wirklich guter Ersatz für eine gute Berufsunfähigkeitsversicherung. Bereits die Begrenzung der Laufzeit stellt ein nicht unerhebliches Risiko dar. Noch problematischer ist die gerne als Alternative angebotene Unfallversicherung mit spezieller Gliedertaxe. Solche Versicherungen zahlen im Falle eines Unfalls mit bleibenden Schäden einen vorher festgelegten Betrag zur Abfederung der Unfallfolgen. Für MusikerInnen gibt es dabei spezielle „Gliedertaxen“, die z. B. bereits beim Verlust eines einzigen Fingergliedes die volle Entschädigung zahlen. Allerdings ist der Nutzen einer solchen Versicherung relativ gering angesichts der Tatsache, dass laut einer Untersuchung des Analysehauses Morgen & Morgen nur ca. 10 Prozent der Fälle von Berufsunfähigkeit durch einen Unfall versursacht werden.3 Das bedeutet um­gekehrt, dass in 90 Prozent der Fälle von Berufsunfähigkeit eine Unfallversicherung nichts nützt. Auch andere Versicherungen wie Erwerbsunfähigkeitsversicherungen, die im Prinzip ähnlich wie die Erwerbsminderungsrente funktionieren, können nicht als Ersatz für eine vollwertige Versicherung gegen Berufsunfähigkeit betrachtet werden.

Eigentlich wünschenswert, aber…

Eigentlich ist eine Berufsunfähigkeitsversicherung eine der wenigen Versicherungen, die jeder haben sollte. „Wer jünger als 52 Jahre ist, sollte sich unbedingt privat schützen. Das empfehlen Verbraucherschützer, Versicherungsberater und Politiker in ungewohnter Einigkeit.“4 Leider ist die Realität alles andere als befriedigend. Die Versicherer verkaufen eifrig Versicherungen gegen Berufsunfähigkeit, aber diejenigen, die diese Versicherungen am dringendsten benötigen, bleiben außen vor; entweder sie bekommen gar keinen Vertrag oder die Versicherung ist so teuer, dass sie nicht finanzierbar ist. Und der Eintritt des Versicherungsfalls stellt die Versicherten erst recht vor enorme bis unüberwindbare Schwierigkeiten. Hier wäre die Politik gefordert, einen Ersatz für die abgeschaffte Berufsunfähigkeitsrente zu schaffen, denn offensichtlich ist die private Versicherungswirtschaft nicht willens und in der Lage, eine faire und für alle bezahlbare Absicherung gegen eines der ganz großen Risiken zu schaffen – es wird geschätzt, dass ca. 40 Prozent der heute 20-Jährigen irgendwann einmal in ihrem Berufsleben berufsunfähig werden.5
Wer sich trotz aller Probleme mit dem Thema befassen möchte, der sollte sich auf alle Fälle mit dem Informationspaket der Stiftung Warentest befassen, auch wenn der Test der Berufsunfähigkeitsversicherungen naturgemäß unvollständig ist. So werden nur der Vertrags­abschluss und die Bedingungen getestet – wie sich die Unternehmen hingegen im Schadensfall verhalten, bleibt ungewiss. Im Zweifelsfall sollte man sich bereits im Vorfeld und bei der Suche einer Versicherung qualifizierte und unabhängige Hilfe suchen, z. B. bei Verbraucherberatungen oder einem unabhängigen Versicherungsmakler, der nicht auf Provisionsbasis, sondern gegen Honorar arbeitet.

1 www.handelsblatt.com/finanzen/vorsorge-versicherung/nachrichten/berufsunfaehigkeitsversicherung-warum-so-wenige-bu-versicherungen-bekommen/8681716-4.html
2 Diese Verfahrensweise wird sehr anschaulich beschrieben unter: www.handelsblatt.com/finanzen/vorsorge-versicherung/nachrichten/berufsunfaehigkeit-wie-versicherer-invalide-abweisen/ 8809594.html
3 „Deutlich mehr Leistungsfälle in der Berufsunfähigkeit – Versichererkompetenz ist entscheidend (18.04.2013)“; www.morgenundmorgen.com/pressenews/pressemitteilungen
4 www.handelsblatt.com/finanzen/vorsorge-versicherung/nachrichten/berufsunfaehigkeitsversicherung-ueberschaetzt-teuer-oder-wertlos/ 8681716.html
5 ebd.