Pannes, Matthias
Glücklich wie Sisyphus
Der Verband deutscher Musikschulen und seine bildungspolitischen Einbindungen
Der Verband deutscher Musikschulen, der 2022 sein 70-jähriges Bestehen feierte, entwickelte sich in einem ebenso komplexen wie dynamischen gesellschaftlichen und institutionellen Gefüge. Jede Phase brachte neue Herausforderungen. Sie zu betrachten, schärft den Blick für gegenwärtige Aufgaben.
Was kennzeichnet einen Verband? Zivilgesellschaftlich basiert, strukturell wie ein Verein aufgebaut und demokratisch verfasst, ist ein Verband ein Zusammenschluss von juristischen Personen. Im Falle des Verbands deutscher Musikschulen e. V. (VdM) ist es der Zusammenschluss von Musikschulträgern in ihrer körperschaftlichen Vielfalt: Städte, Gemeinden, Landkreise, eingetragene Vereine, Zweckverbände, Anstalten öffentlichen Rechts, Stiftungen oder der Typus der gemeinnützigen GmbH. Die Ausgestaltung der kommunalen Musikschulen offenbart dabei noch einmal eine strukturelle Vielfalt – als Fachbereiche, Ämter, Dienststellen oder Eigenbetriebe. Aus solcher Träger-„Fauna“ leitet sich aber ein durchgängiges Faktum ab: Konkret, real wirksam und vitalisiert wird die Arbeit im VdM als Fachverband der Träger nur durch die konkreten Aktivitäten natürlicher Personen und damit durch Engagement und Handeln von Menschen, die von der Idee „Musikschule“ überzeugt sind.
Reaktion auf zivilisatorische Katastrophen
Der Verband deutscher Musikschulen (VdM) wurde 1952 auf Schloss Oberwerries bei Hamm in Westfalen von zwölf Musikschulen gegründet. Musikschulen gab es damals natürlich schon deutlich länger und auch mehr als dieses Dutzend der Verbandsgründung. Die älteste noch heute aktive Musikschule wurde 1810, also in der napoleonischen Zeit des Rheinbundes, von Carl Theodor von Dalberg in Aschaffenburg im Geist der Aufklärung und im Sinne der Bildung der Citoyens, also des politisch bewussten Bürgertums, ins Leben gerufen.
Im Verlauf des 19. Jahrhunderts folgten mehrere Gründungen von Konservatorien und (ihnen teils angeschlossenen) Musikschulen, vorwiegend in Städten. Die Zeit ab 1900 zog mit der Jugendbewegung, vor allem nach der zivilisatorischen Katastrophe des Ersten Weltkriegs, Gründungen von Jugendmusikschulen (und Singschulen) nach sich. So wurde z. B. die Westfälische Schule für Musik durch den Rat der Stadt Münster 1919 aus dem Horizont der Kriegserfahrungen heraus gegründet.
Ein anderes Beispiel: Im ruinösen Inflationsjahr 1923 wurde die bis dahin 78 Jahre in privatem Kontext geführte Rheinische Musikschule in Köln auf Initiative des Oberbürgermeisters Konrad Adenauer durch Ratsbeschluss in die städtische Trägerschaft übernommen und damit öffentliche Aufgabe. Mit Blick auf die wirtschaftliche Not und die gesellschaftlichen Wirren der beiden genannten Jahre 1919 und 1923 waren dies mutige Entscheidungen. Von dieser entschlossenen Haltung möchte man heutzutage in der Bildungspolitik und der kommunalen Daseinsvorsorge gern mehr sehen. Eine zweite Strömung führte aus der politischen Zielsetzung der Emanzipation und Bildung der Arbeiterklasse zur Gründung von Volksmusikschulen, vielfach ebenfalls in der Zwischenkriegszeit bis 1933 (in einer solchen Einrichtung war z. B. Paul Hindemith als Lehrer tätig).
Gleichschaltung im Nationalsozialismus
Mit der politischen Gleichschaltung im Nationalsozialismus übernahmen Musikschulen dann vielfach die herrschende Ideologie oder propagierten sie gar – bis hin zu Übernahme von HJ-Liederbüchern und enger Verbindung zu HJ-Spielscharen. Manche Musikschulen versuchten aber auch, sich mit ihren Angeboten etwas mehr abseits von der politischen Vereinnahmung aufzustellen, etwa durch Verbindungen mit und Bezugnahme auf Volksmusik, mit Aktivitäten in regionalen Musiktraditionen oder mit instrumentenspezifischen Zusammenschlüssen.
Allerdings war diese Flucht in vermeintlich „unpolitische“ Kontexte im totalitären Staat des NS-Regimes ebenso eine Lebenslüge wie später die zweckoptimistische Haltung in den restaurativen Anfangsjahren der Bonner Republik: die irrige Sicht nämlich, dass von den Jahren des braunen Schmutzes nichts und niemand den neuen Aufbruch der Musikerziehung und ihrer Institutionen beeinflussen oder gar belasten würde. Es gab keine „Stunde Null“ – Vorkriegsakteure waren Nachkriegsakteure, wenn auch in anderem Gewand. Beispielhaft genannt sei Wolfgang Stumme, in der NS-Zeit als „Hauptbannführer“ Leiter der Abteilung Musik im Hauptamt der Reichsjugendführung, nach dem Krieg verantwortlich in der Ausbildung von MusikpädagogInnen. Ähnliches gilt für das NSDAP-Mitglied Guido Waldmann, seit 1933 ideologietreuer Schriftleiter von Musik und Volk bzw. Musik in Jugend und Volk sowie von Musik im Kriege, des aus vier in den Kriegsjahren nicht mehr überlebensfähigen Musikzeitschriften zusammengelegten Periodikums, mit letzter Ausgabe Ende 1944: Waldmann war im Nachkriegsdeutschland Leiter der Ausbildung für Privatmusiklehrer an der Musikhochschule Stuttgart, später Leiter der durch ihn ausgestalteten Staatlichen Hochschule für Musik Trossingen und Gründer und erster Leiter der Bundesakademie für musikalische Jugendbildung in Trossingen.
Zivilgesellschaftliche Willensbildung
Dieses kurze Schlaglicht dient zur Illustration der Gründungsatmosphäre des VdM in der jungen Bundesrepublik. Man wollte mit dem Zusammenschluss im Verband eine Grundlage schaffen, um mit Qualitätsanspruch Musik und Musikerziehung in der Gesellschaft, oder, wie es damals hieß, „in Jugend und Volk“ zu verbreiten, sie dort zu verankern und wachsen zu lassen. Dies war aber auch mit dem Ziel verbunden, aus dem Erleben musikalischer Gemeinschaft heraus ein positives Lebensgefühl für die Jugend zu vermitteln und dieses in die Gesellschaft der Jahre des Wiederaufbaus hineinzutragen. Die Idee wie die Akteure waren aber mit Inhalten und Formaten gebunden in Musiktraditionen, die sich aus der Jugendbewegung über die NS-Zeit in die 1950er Jahre hinein mäandernd fortgesetzt hatten. Dies war übrigens kein Spezifikum des Musikschulsektors: Im Sport und in vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen waren vergleichbare Phänomene zu verzeichnen.
Und doch: Mit der Schaffung von Verbänden wollte man weg von früheren obrigkeitsstaatlichen Aufstellungen des Gemeinwesens und ein eigenständiges Gewicht zivilgesellschaftlicher Willensbildung, Organisation und fachlicher wie (gesellschafts-)politischer Artikulationsfähigkeit neu schaffen und teils auch bürgerschaftliche Emanzipationsaspekte aus der Zeit der Weimarer Republik wiederbeleben.
Der VdM war darin ein Kind seiner Zeit und hatte bis Anfang der 1960er Jahre die vielfach betulich-konservatoriale Entwicklung seiner bis dahin etwas mehr als hundert Mitgliedsschulen begleitet, mit fachlichen Anregungen, mit Veranstaltungsimpulsen, mit Beratung und Austausch. Der VdM war von Anfang an als Fachverband der Träger von Musikschulen konzipiert und tätig und als solcher wenig mit eigenständigen politischen Aktivitäten in Richtung der Kommunalverbände oder der Länder unterwegs. Zwar hat der Verband Aspekte des Berufsbilds, der Qualifikationen, der Ausbildung und der Fortbildung im Kontext der Frage von Fachkräfte-Gewinnung thematisiert und die Kommunalebene der Städte, Kreise und Gemeinden als Träger der Einrichtungen beraten sowie fachliche Orientierung gegeben. Beschäftigungspolitik im engeren Sinne war jedoch nicht Angelegenheit des Fachverbands, auch gar nicht vorstellbar im damalig durchaus noch eingeschränkten Lehrangebot an Musikschulen.
Einig war man sich im Verband, dass Musikschule eine Schule sein sollte – aber eine Schule eigener Art: ohne formale Bildungsabschlüsse, mit Freiheit zu kreativer und künstlerischer Entwicklung.
Lehrkräfte an Musikschulen waren (und sind) vielfach in Teilzeitbeschäftigung oder gar nebenberuflich tätig – unter anderem aus dieser Perspektive heraus hat der VdM bis heute keine genuine Aufgabe oder Funktion als Arbeitgeberverband, sondern ist mit seiner Expertise immer auf Strukturentwicklung und Qualität der Einrichtungen und ihres Personals ausgerichtet. Nur mittelbar nimmt er Einfluss auf Fragen von Beschäftigungsverhältnissen und Tarifmerkmalen: über die Definitionen von Qualifikationen der Lehrkräfte und über Maßnahmen zur Steigerung ihrer pädagogischen Professionalität ebenso wie durch Hilfestellung zur Optimierung von Betriebsorganisation der Musikschulen.
Einig war man sich im Verband, dass Musikschule eine Schule sein sollte – aber eine Schule eigener Art: ohne formale Bildungsabschlüsse, mit Freiheit zu kreativer und künstlerischer Entwicklung. Auch die Lehrkräfte und das Leitungspersonal wollten damals nicht Teil der allgemeinbildenden Schule sein. Dieser Freiheitswille sollte später ebenso Probleme in Bezug auf mehrere (auch gesetzliche) Aspekte der Anerkennung von Musikschulen im Bildungssystem bereiten wie hinsichtlich der Vergütungsstrukturen und der Anstellungsverhältnisse ihres Fachpersonals. In den beiden ersten Dezennien wirtschaftlicher Prosperität in der Bundesrepublik hatte man diesen Themen im VdM und damit in der bundesdeutschen Fachwelt der Musikschulen noch keine gravierende Bedeutung zuerkannt.
Lesen Sie weiter in Ausgabe 1/2023.