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Schunter, Julian

Grenzenlos musizieren

Das soziale Musikprojekt MUSAIK will Teilhabe ermöglichen

Rubrik: musikschule )) DIREKT
erschienen in: üben & musizieren 5/2019 , musikschule )) DIREKT, Seite 02

Zwischen Plattenbauten ein Zirkuszelt, erwartungsvolles Publikum und ein Meer aus blauen T-Shirts, aufgeregte Kinder mit Celli, Geigen, Trompeten und Saxofonen, Dirigentinnen mit großen, bemalten Plakaten und noch größeren Gesten. Das MUSAIK-Orchester beginnt, 65 Kinder folgen gebannt den Bewe­gungen der Anleitenden, „Ode an die Freude“, Sommerkonzert in Dresden-Prohlis.

Wenn wir davon ausgehen, dass jedes Kind das Recht auf Teilhabe an musikalischer Praxis und damit auf das Erlernen eines Instruments verdient, stellt sich die Frage, welche Bedingungen erfüllt sein müs­sen, um dieses Recht zu gewährleisten. Na­türlich sind die hohen Kosten für Instrumente und Unterricht ein Hindernis für viele Kinder. Neben dem anfänglichen Ermöglichen des Instrumentalunterrichts sind vor allem aber auch die Bedingungen während des Prozesses wichtig, etwa eine geeignete Infrastruktur und soziale Wertschätzung.1
Das familiäre Umfeld spielt eine zentrale Rolle. In einer wöchentlichen Unterrichtseinheit an der Musikschule kann die Lehrperson zwar inspirieren, erklären, Materialien bereitstellen und Übeanleitungen geben, die wesentliche Arbeit muss jedoch zu Hause passieren. Gibt es dort Raum und Ruhe zum Üben? Interessieren sich die Eltern für das Musizieren des Kindes, ermuntern und unterstützen sie es, spielen sie vielleicht sogar selbst mit? Gibt es im familiären Um­feld ein Bewusstsein für den Wert und die Herausforderungen von ins­trumentalen Lernprozessen? Diese Fragen sind entscheidend.

„El Sistema“ in Dresden?

Nach dem Vorbild des vielbeachteten „El Sistema“ aus Venezuela versucht das soziale Musikprojekt MUSAIK in Dresden, ein alternatives Modell von Instrumentalunterricht umzusetzen, bei dem große Teile der traditionell familiär zu leistenden Aufgaben mit übernommen werden, um möglichst vielen Kindern die Teilhabe an musikalischer Praxis zu ermöglichen. Zusätzlich zu kostenlosem Unterricht und Leihinst­rumenten sowie der örtlichen Nä­he zu den Kindern bedeutet das insbesondere: eine große Präsenzzeit, die Gruppe als zent­raler Unter­richtskontext und die Gestaltung von um­fangreichen gemeinsamen Aktivitäten. Die Kinder kommen drei Mal pro Woche für zwei bis drei Stunden für Orchesterspiel, Gruppenunterricht und Chor zusammen.2 Sie lernen ein Streich- oder Blasinstrument von Anfang an in der Gemeinschaft und spielen regelmäßig Konzerte, oft im jahrgangsübergreifenden Orchester, aber auch in Kooperation mit anderen, teils professionellen Ensemb­les.
Peter Röbke bezieht sich im Zusammenhang mit „El Sistema“ auf das Lernmodell der „musikalischen Praxisgemeinschaft“, bei dem das soziale Umfeld, in dem musikalisches Lernen stattfindet, eine entscheidende Rolle spielt.3 Die Idee, das heimische Üben in den Kontext einer Musikschul-Community zu verlagern, wird innerhalb der Instrumentalpädagogik aktuell rege diskutiert.4

Ursprung und Entwicklung

Ein anderes, dem venezolanischen Modell nachempfundenes soziales Musikprojekt ist ARPEGIO in Peru.5 Dort verbrachten die beiden Streicherpädagoginnen Luise Börner und Deborah Oehler ein gemeinsames Jahr und hatten nach ihrer Rückkehr den Wunsch, auch in Dresden ein solches Projekt umzusetzen. Dabei spielten sowohl Erfahrungen in der musikpädagogischen Arbeit mit Geflüchteten eine Rolle als auch die Erkenntnis, dass sich die Jugendorchester der Region trotz aller ­Bemühungen um Breitenförderung und niedrigschwellige musikpädagogische Angebote so gut wie ausschließlich aus GymnasiastInnen zusammensetzen, bestimmte Milieus also offenbar keinen Weg in die Orchesterlandschaft finden.
Im September 2017 gründeten die beiden den Verein „MUSAIK – Grenzenlos Musizieren e. V.“ und starteten mit dem Unterricht in Dresden-Prohlis, einem Stadtteil, in dem in den vergangenen Jahren zahlreiche Geflüchtete angekommen sind und in dem gleichzeitig viele Menschen an der Armutsgrenze leben.6 In den ersten Wochen kamen rund 70 Kinder zum Ausprobieren, von denen schließlich etwa 25 blie­ben, um Cello oder Geige zu lernen, etwas über die Hälfte davon mit Migrationshintergrund.
Im Mai 2018 gewann MUSAIK den ersten Preis beim Hochschulwettbewerb Musikpädagogik der Rektorenkonferenz der deut­schen Musikhochschulen. Zum Schuljahr 2018/19 erweiterte sich das Team der Lehrkräfte, es begann eine neue Streichergruppe und es wurde zusätzlich ein Bläserbereich ins Leben gerufen. Aktuell kommen etwa 65 Kinder zwischen sechs und vierzehn Jahren regelmäßig zum Unterricht. Auch ergaben sich mehrere wertvolle Kooperationsprojekte, so z. B. ein gemeinsames Konzert mit dem Dresdner Nachwuchsorchester des Heinrich-Schütz-Konservatoriums und die Uraufführung eines speziell für diesen Anlass komponierten Werks mit den Dresdner Sinfonikern im Festspielhaus Hellerau.7

Bunte Saiten und Solmisation

Neben der Vermittlung von instrumentalen Grundlagen sind vor allem spielerische und kreativ-gestalterische Herangehensweisen, Bewegung zur Musik sowie das Singen zentrale Bestandteile des Unterrichts. Im Streicherbereich wird mit Elementen der Colourstrings-Methode gearbeitet, welche Lerninhalte kindgerecht mit bestimmten Farben und Symbolen verknüpft sowie regelmäßig das Pizzicato der linken Hand und natürliche Flageoletts mit einbezieht. Zusätzlich spielen Relative Solmisation sowie die Rhythmussprache nach Kodály eine tragende Rolle. Auch im Bläserbereich wird zunächst nach Solmisationssilben und -handzeichen gespielt, was ein unmittelbares gemeinsames Musizieren der unterschiedlich transponierenden Instrumente ermöglicht.

Potenziale und Herausforderungen

MUSAIK will Begegnungen zwischen den Kindern, aber auch zwischen deren Familien ermöglichen sowie durch die Konzerte ebenso zwischen den Kindern und den Bewohnern des Viertels und der Stadt. Auch will das Projekt Teamwork, Rücksichtnahme, Kommunikationsfähigkeit, Disziplin, Verantwortungsbewusstsein und Selbstwertgefühl stärken und so dazu beitragen, dass Kinder Lust am Mitgestalten von gesellschaftlichem Zusammenleben entwickeln.8
Natürlich bringt ein solches Vorhaben gro­ße Herausforderungen auf verschiedenen Ebenen mit sich. Im administrativen Bereich leistete die Cellex-Stiftung als Projektträgerin unverzichtbare Unterstützung. In Bezug auf die Raumsituation gibt es noch offene Fragen. Ideal wäre ein eigener Ort, ein sozialer Treffpunkt, der gestaltet werden kann und den die Kinder besuchen, um frei von Zwang und negativen Konnotationen gemeinsam Zeit zu verbringen.9 Eng damit verbunden ist die Schwierigkeit einer kontinuierlichen Finanzierung. Zwar ist das Interesse von Politik und Medien sehr groß, auch gibt es bereits umfangreiche Unterstützung,10 dennoch ist das Projekt immer wieder auf neue und oft un­sichere Förderzusagen angewiesen. Um dauerhaft und verlässlich arbeiten zu können, wäre eine institutionelle Förderung wünschenswert.

Ausblick

Im Bemühen, sich stetig weiterzuentwickeln sowie einen breiten Unterstützerkreis aufzubauen, ist der Verein offen für Anregungen und Kontakte, für Menschen, die sich für das Projekt engagieren wollen, für pädagogische Expertise und fachlichen Austausch. Auch Geld- und Instrumentenspenden sind immer willkommen.11 Mittlerweile finden sich europaweit erfolgreiche von „El Sistema“ inspirierte Projekte.12 Mit MUSAIK gibt es nun einen solchen Vorstoß in Deutschland. Hoffentlich kann er Impulsgeber sein, hin zu echter Teilhabegerechtigkeit und für eine musikpädagogische Arbeit im Sinne einer Gesellschaft des gelebten Miteinanders.

1 Jürgen Vogt bezieht sich in diesem Zusammenhang auf den sog. „Capabilities Approach“ von Amartya Sen und Martha C. Nussbaum; vgl. Jür­gen Vogt: „Benachteiligung und Teilhabe im Kontext von Kultur- und Musikpädagogik“, in: Zeitschrift für Kritische Musikpädagogik 2013, S. 8-12.
2 Bei „El Sistema“ finden Orchesterproben sogar fünf Mal wöchentlich statt; vgl. Peter Röbke: „Was hat El Sistema mit Klavierunterricht in Dinkelsbühl zu tun?“, in: üben & musizieren 6/2011, S. 8-13.
3 vgl. Peter Röbke: „Lernen in der musikalischen Praxisgemeinschaft“, in: Peter Röbke/Natalia Ardila-Mantilla (Hg.): Vom wilden Lernen. Musi­zieren lernen – auch außerhalb von Schule und Unterricht, Mainz 2009, S. 159-168 sowie Peter Röbke: „Der musikalische Ernstfall“, in: üben & musizieren 3/2010, S. 46-49.
4 zuletzt besonders intensiv von Andreas Doerne: Musikschule neu erfinden. Ideen für ein Musizierlernhaus der Zukunft, Mainz 2019. Siehe auch Barbara Busch und Barbara Metzger zur „Rolle der Eltern“, in: Barbara Busch (Hg.): Grundwissen Instrumentalpädagogik, Wiesbaden 2016, S. 157 f.
5 siehe hierzu den Bericht von Luisa Marotzke und Tatjana Merzyn in üben & musizieren 1/2011,
S. 48-50.
6 Die Arbeitslosigkeit in Prohlis ist überdurchschnittlich hoch, deutlich mehr als die Hälfte der Kinder leben in Familien, die auf Hartz IV angewiesen sind, vgl. http://qm-prohlis.de/Bevoelkerungsstruktur.24.html (Stand: 19.7.2019).
7 Intendant Markus Rindt hatte im Vorfeld den Erich-Kästner-Preis des Presseclubs Dresden er­halten und das Preisgeld an MUSAIK gespendet.
8 Mit den sozialen und gesellschaftlichen Dimensionen von musikpädagogischer Arbeit beschäftigte sich ausführlich Ausgabe 1/2019 dieser Zeitschrift, siehe insbesondere Thomas Greuel: „Miteinander verbunden. Soziale und gesellschaftliche Dimensionen des gemeinsamen Musizierens“, S. 6-11.
9 Aktuell findet der Unterricht an zwei Schulen statt, was dieser Idee nicht vollständig gerecht wird.
10 u. a. durch die Stadt Dresden, den Sächsischen Musikrat, die Cellex-Stiftung, das Societaetstheater und das Quartiersmanagement Prohlis. Wei­tere Unterstützer und aktuelle Informationen unter www.musaik.eu.
11 Kontakt: mail@musaik.eu.
12 siehe den Bericht von Andrea Welte über das französische Projekt „Démos“ in üben & musizieren 3/2016, S. 44-46 sowie den Bericht von Han­nah Lindmaier über das österreichische Projekt „Superar“ in üben & musizieren 4/2016, S. 22-25.

www.musaik.eu