Gruhn, Wilfried / Elke Hofmann / Peter Schneider

Grundtonhörer? Obertonhörer?

Hörtypen und ihre Instrumente

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 1/2012 , Seite 12

Gehörbildung, wie sie in jeder Studienordnung der Musiker­ausbildung verankert ist, müsste viel mehr sein als methodisches “Ear-training”, indem sie auf die Bildung des Hörens als der letzten sinn­gebenden Instanz musikalischer Bedeutung zielt. Und wie sehr sogar unsere Instrumentenwahl davon abhängt, wie wir hören, das zeigt dieser Beitrag.

Hören und Verstehen verlangen Denken und Erkennen, also einen Vorgang, bei dem den sensorischen Reizen (Tönen, Klängen, Geräuschen) ein struktureller und funktionaler Sinn zugeordnet wird. Der amerikanische Musikpsychologe Edwin Gordon hat diesen Vorgang audiation genannt.1 Hörenlernen hieße demnach, musikalisch Denken zu erlernen. Denn was wir als Musik, also als Ton oder Klang, Melodie oder Rhythmus, Form oder Farbe wahrnehmen, entsteht erst in unserem Kopf und stellt eine Leistung des phänomenalen Bewusstseins dar. Wie es zu qualitativen Empfindungsunterschieden kommt und wie Menschen ganz verschieden auf musikalische Reize reagieren, hat MusikerInnen und MedizinerInnen,2 PsychologInnen und PädagogInnen seit Langem beschäftigt. Wir wollen daher Hören und Hörer im Lichte neurophysiologischer Forschung neu bestimmen.

Grundlagen der ­Wahrnehmung

In Bruce Goldsteins Wahrnehmungspsychologie (1997) wird das Kapitel über das Hören mit einem Bild eingeleitet, das die Situation des Hörens veranschaulichen soll. Zu sehen ist dabei ein See mit Booten in ländlicher Umgebung. Im Vordergrund befestigt ein Beobachter jeweils ein Taschentuch über zwei kurzen Kanälen. Die Frage lautet: „Kann man feststellen, was sich auf einem See abspielt, indem man beobachtet, wie sich die Taschentücher bewegen, wenn Wellen in die Kanäle gelangen?“3 Spontan würden wir dies sicher verneinen; denn wie soll es möglich sein, aus der Wellen­bewegung des Wassers auf die Vorgänge auf dem See zu schließen? Aber tatsächlich entspricht dies genau der Situation des Hörens, bei dem wir aus einfachen Luftschwingungen auf komplexe Klangereignisse schließen.
Mit seiner bahnbrechenden Lehre von den Tonempfindungen hatte Hermann von Helmholtz 1863 die Grundlage für eine physiologische Akustik als Grenzgebiet der Musikwissenschaft gelegt und damit vornehmlich physiologische Begründungen für seine Theorie zur Tonwahrnehmung geliefert.4 Darin unterschied er zwei Grade der bewussten Wahrnehmung. Am Beispiel der Obertonwahrnehmung untersuchte er, ob das Obertonspekt­rum nur einheitlich als Klangfarbe gehört (perzipiert) werden könne oder ob die Aufmerksamkeit sich auch gesondert auf die mitschwingenden Teiltöne richte (diese apperzipiere).5 Damit führte er eine psychoakustische Differenzierung bewusster Tonempfindungen ein, die zwischen einer eher unmittelbar ganzheitlichen und einer analytisch-synthetischen Wahrnehmung unterschied, wofür er dann nach den physiologischen Voraussetzungen suchte.
Neuere Erkenntnisse der Wahrnehmungspsychologie messen den physiologischen Bedingungen jedoch eine geringere Bedeutung bei, weil die neuronalen physiologischen Reaktionen nicht unmittelbar mit der wahrgenommenen Außenwelt in Verbindung stehen und diese nicht im wörtlichen Sinne „abbilden“ können. Vielmehr sind die Modalität (Hören, Sehen, Schmecken etc.) und die Qualität der Wahrnehmung (Tonhöhe, Lautheit) ein Konstrukt unseres Gehirns.6
Wie ist das zu verstehen? Schallwellen gelangen über die Gehörgänge des äußeren und des Mittelohrs in das Innenohr, wo mechanische Schwingungen in elektrochemische Signale umgewandelt werden, die dann in die Hörrinde (auditorischer Cortex) gelangen, wo entsprechende Nervenzellen auf diese Sig­nale reagieren.

1 Edwin E. Gordon: Learning Sequences in Music. A Contemporary Music Learning Theory, Chicago 1980, 72007.
2 Die ersten Forscher, die sich mit der Untersuchung musikalischer Fähigkeiten beschäftigt haben, waren ­interessanterweise der Chirurg und Brahms-Freund Theodor Billroth (1896) und der Freiburger Physiologe Johannes von Kries (1926).
3 E. Bruce Goldstein: Wahrnehmungspsychologie, Heidelberg 1997, S. 352.
4 Hermann von Helmholtz: Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik, Braunschweig 1863 (Gesammelte Schriften, Band 2, Hildesheim 2003).
5 Die begriffliche Unterscheidung in Perzeption und ­Apperzeption übernahm er von Leibniz (vgl. Helmholtz, S. 107 ff.).
6 vgl. Gerhard Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen ­Konsequenzen, Frankfurt am Main 1996, S. 98.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 1/2012.