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Goeth, Maria

Haha, das hab ich ja noch nie gehört!

Humor in der Musik

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 1/2020 , Seite 22

Damit Musik ihre Hörer zum Lachen bringen kann, muss sie zunächst einmal eines: verblüffen! Aber was ist musikalische Überraschung und wie muss ein Werk gebaut sein, damit es humoristisch wirkt?

Schon frühmorgens dudelt das Radio, im Café und Restaurant herrscht ebenso Dauerbeschallung wie im Aufzug und in der U-Bahn, ganz zu schweigen von der Musik im Fernsehen oder auf dem Smartphone. Spätestens seit Erfindung der Tonaufzeichnung bekommen die Menschen in Europa das abendländische Tonsystem regelrecht dauerinjiziert. Tagtäglich. Von früh bis spät. Mit verblüffendem Ergebnis: In nur 250 Millisekunden sind Hörer im Schnitt in der Lage, grundlegende Musikstile wie Jazz, Rock, Blues, Latin oder Klassik voneinander zu unterscheiden. So zumindest lautet das Ergebnis einer Studie von 2008 an der Northwestern University in Illinois (USA).1
Zur Verifizierung lohnt ein Selbstversuch: Dreht man das Radio ohne Betrachtung des Senders an, lassen sich üblicherweise in Sekundenbruchteilen Stile identifizieren – und das sogar unabhängig davon, an welcher Stelle innerhalb eines Musikstücks man zuschaltet. Offenbar verfügt der durchschnitt­liche Hörer über eine geradezu frappierende Begabung, enorm schnell und treffsicher solche Zuordnungen durchzuführen.

Statistik im Hirn

Um zu verstehen, wie diese Begabung entsteht, welche Rolle sie in Bezug auf musikalische Überraschungsmomente spielt und was das alles mit Humor in der Musik zu tun hat, lohnt sich ein tieferer Blick in die Arbeit von David Huron, einem inzwischen emeritierten kanadischen Professor für Kognitionswissenschaft an der Ohio State University. In seinem Buch Sweet Anticipation2 stellt er eine umfassende Theorie dazu auf, wie Menschen im Laufe ihres Lebens zunächst Hör­erfahrung erwerben – namentlich durch „statistical exposure“, also durch Lernen aufgrund reiner Hörhäufigkeiten. Der permanent mit Musik aus dem europäischen Kulturraum konfrontierte Hörer wird unbewusst alle möglichen musikalischen Wahrscheinlichkeiten verinnerlichen, die tatsächlich messbaren Wahrscheinlichkeiten entsprechen und sich statistisch wiedergeben lassen.
Bei der Auswertung tausender Musikstücke fand David Huron beispielsweise heraus, dass bei der Melodiebildung kleine Intervallschritte um ein vielfaches wahrscheinlicher sind als große – und zwar sowohl im europäischen als auch im afrikanischen, asiatischen und amerikanischen Kulturraum.3 Große Sprünge sind also selten. Treten sie dennoch auf, so wesentlich häufiger auf- als abwärts und oftmals gefolgt von einer melodischen Richtungsänderung.4 Deshalb lassen sich mit Sprüngen musikalische – und darunter eben auch humoristische – Überraschungsmomente generieren.
Der französische Komponist Charles Valentin Alkan setzt dieses Mittel plakativ etwa in seinem Marcia funèbre sulla morte d’un pappagallo („Trauermarsch für einen verstorbenen Papagei“) von 1859 ein. In dem Werk für die kuriose Besetzung Chor, drei Oboen und Fagott wird zunächst „As-tu déjeuné, Jacot?“ gefragt, dem französischen Äquivalent zu „Polly will einen Keks“. Auf die anschließende Frage „Et de quoi?“ („Und warum?“) wird vom zweigestrichenen b in der Oboe über vier (!) Oktaven zum Kontra-B im Fagott gesprungen – zu allem Überfluss auch noch dolce und piano, was insbesondere bei den tiefen Fagott-Tönen einen bizarren Klangeffekt hinzugibt. So wirken die Sprünge hochgradig ungewöhnlich und komisch. Sie tragen im Zusammenhang mit vielen weiteren humoristischen Details dazu bei, dieses Werk mit seinem übertriebenen Pathos wegen eines verstorbenen Haustiers zu einer veritablen Parodie auf „echte“ Trauermusiken zu machen.5
Nicht nur in Bezug auf die Melodiebildung und auf Sprünge lassen sich unzählige Wahrscheinlichkeiten und damit Unwahrscheinlichkeiten – also potenzielle Überraschungsmomente – benennen, sondern auch in Bezug auf alle anderen Bausteine der Musik, etwa auf die Harmonie (in westlicher Musik ist die Dominante die am häufigsten verwendete Tonstufe),6 den Rhythmus (in einem 6/8-Takt ist es sehr wahrscheinlich, dass auf der ersten Achtelnote betont wird, und sehr unwahrscheinlich, dass auf der zweiten Achtelnote betont wird)7 oder auf größere musikalische Zusammenhänge (40 Prozent der euro­päischen Volkslieder haben eine Melodie, die zunächst auf- und dann wieder absteigt).8

1 David Perrott und Robert Gjerdingen: „Scanning the Dial: The Rapid Recognition of Music Genres“, in: Journal of New Music Research, 37, 2008, S. 93-100.
2 David Huron: Sweet Anticipation. Music and the Psychology of Expectation, Cambridge 2007.
3 ebd., S. 74 ff.
4 ebd., S. 80 ff.
5 Ähnliches gilt übrigens für die Kanarienvogelkantate TVWV 20:37 von Georg Philipp Telemann. In Ludwig van Beethovens Elegie zum Tod eines Pudels wirkt die Trauer hingegen ernster gemeint.
6 Huron, Sweet Anticipation, S. 150 ff.
7 ebd., S. 114 f.
8 ebd., S. 86.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 1/2020.