Bastian, Hans Günther / Wilfried Fischer

Handbuch der Chorleitung

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Schott, Mainz 2006
erschienen in: üben & musizieren 1/2007 , Seite 56

Wo Ausbildungshintergrund und „Praxisschock“ als Wirklichkeit des Chorleiterdaseins erkannt werden, wird die vorliegende Veröffentlichung ihren Abnehmerkreis finden. Man soll ja nicht gleich vom Geld reden, aber der Preis für eine derart umfang- und inhaltsreiche Publikation ist sensationell. Ein „Handbuch der anderen Art“, wie es im Vorwort heißt, liegt hier tatsächlich vor, denn der erste Teil dürfte in so subtiler Darstellungsweise und Ausführlichkeit wohl kaum andernorts zu finden sein.
In diesen ersten rund 190 Seiten wird der „Chor – das unbekannte Wesen“ auf Herz und Nieren durchleuchtet. Da wird die allgemeine Sinnkrise, die ja auch eine Singkrise ist, soziologisch, psychologisch und ökonomisch aufbereitet und daraus das schwierige Umfeld und die problematischen Rahmenbedingungen gegenwärtiger Chorarbeit abgeleitet und in vielfältigen Quellentexten gespiegelt, die von der wissenschaftlichen Untersuchung über politische Statements bis zur Publikumsbefragung reichen.
Hauptadressatin ist laut Vorwort die Laienchorszene, die aber immer unter dem Blickwinkel des künstlerischen Anspruchs und einer Verpflichtung dem Werk gegenüber gesehen wird. So liegt hier auch eine „Ethik“ des Chorsingens und der Chorarbeit vor, die bei aufmerksamer Lektüre so manchem „Wildwuchs“ den rechten Weg ebnen könnte. Hans Günther Bastian ist mit diesem analytischen Teil eine „Phänomenologie“ des Chorsingens geglückt, die jeder Praktiker mit Gewinn, aber auch mit Genuss lesen wird.
Um den Begriff Handbuch zu rechtfertigen darf ein praktischer Teil natürlich nicht fehlen. Hierfür zeichnet im Wesentlichen Wilfried Fischer verantwortlich und bereitet die handwerklichen Seiten der Chorarbeit übersichtlich und sinnvoll strukturiert auf. Neben schlagtechnischen Grundlagen, Probendisposition und -durchführung, künstlerischer Gestaltungsarbeit, Umgang mit Chor und Orchester, Hinweisen zu transponierenden Instrumenten und Auflistung der wichtigsten Stricharten zur Ausarbeitung der Orchesterpartitur wird sehr ausführlich das Gebiet der chorischen Stimmbildung behandelt. Es wird aber auch z. B. der Einsatz des Klaviers während der Chorprobe von unterschiedlichen Standpunkten aus thematisiert.
Für die chorische Stimmbildung ist durch die Mitautorschaft der Gesangspädagogin Kerstin Maria Wüller ein kompetenter Abschnitt über diesen unverzichtbaren Teilbereich einer ernst zu nehmenden Chorarbeit entstanden. Einsingeübungen und Stimmbildungshilfen sind hier durchaus nach dem „Lustprinzip“ zusammengestellt und sollen bewirken, dass ein oft als nur notwendiges Übel angesehener Probenabschnitt im Choralltag als begeisternder Trip in die Welt der eigenen Stimme empfunden wird. Diese notwendige Selbstwahrnehmung der einzelnen Chorsängerin und des einzelnen Chorsängers ist für die künstlerische Aussagekraft eines Vokalensembles grundlegend, muss aber wohl an vielen Stellen immer wieder betont werden.
Dass der praktische Teil des Buchs die lebendige Studienvermittlung und die Ergänzung durch andere wichtige Monografien zur Chorleitung nicht ersetzen kann, ist den Autoren bewusst. Ein wesentlicher Kernbereich der Problematik und wichtige praxisbezogene Grundlagen sind aber allemal in diesem zweiten Hauptteil zu finden. Literaturhilfen, eine Liste der wichtigsten Chorverbände und anderer hilfreicher Adressen bis hin zu einem „Chorleiter-Mustervertrag“ runden das Buch ab.
Thomas Holland-Moritz