Hempel, Christoph

Harmonielehre

Das große Praxisbuch. Harmonie und Satz vom Choral bis zum Jazz

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Schott, Mainz 2014
erschienen in: üben & musizieren 1/2015 , Seite 48

Musikmachen nach Gehör und ohne Wissen über harmonische Zusammenhänge funktioniert für viele Hobbymusiker äußerst gut; zum Nachspielen von Lieblingssongs und klassischer Standardwerke muss man nicht wissen, was kompositionstechnisch abläuft. Wer sich aber ernsthafter mit Musik beschäftigt, selbst komponieren oder arrangieren will, kommt um ein tieferes Verständnis der musikalischen Zusammenhänge nicht herum. Christoph Hempel und Felix Schell gehen auf unterschied­liche Weise an das trockene Thema Harmonielehre heran und zielen dabei auf unterschied­liche Zielgruppen.
Mit 620 Seiten ist „Das große Praxisbuch“ ein äußerst umfangreiches Werk geworden. Hempel spannt einen historischen Bogen vom 16. bis 20. Jahrhundert und lässt keine harmonische Erscheinung aus. Vom Ansatz her klar von der klassischen Harmonielehre geprägt, erklärt das Buch Grundlagen wie Akkorde und Tonleitern, beleuchtet ihren geschichtlichen Hintergrund und zeigt anhand zahlreicher Beispiele, wie sie in Kompositionen verwendet werden. Hempel beschränkt sich dabei auf Klassik und Jazz, Beispiele aus Rock oder aktueller Popmusik sucht man vergebens.
Dafür gibt es zu jedem notierten Beispiel ein Hörbeispiel, das man auf der Webseite des Verlages herunterladen kann. Dazu wurde ein gehöriger Aufwand betrieben: Statt synthetischer MIDI-Sounds erwarten einen gut aufgenommene Klaviere, Orchester und Chöre, immer passend zur Epoche und Stilistik des notierten Beispiels.
Für einen Einstieg in die Welt der Harmonielehre ist Hempels Werk nur bedingt geeignet. Notenschrift, Dreiklänge und andere Grundlagen werden zwar erklärt, aber schon im dritten Kapitel, das die Definition grundlegender Begriffe zum Inhalt hat, wird eine Vertrautheit mit komplexen musikalischen Termini voraus­gesetzt, die den Harmonielehre-Anfänger frustriert zurücklassen wird. Hempel richtet sich eher an fachlich geschulte LeserInnen, die es ganz genau wissen wollen und schon Kenntnisse von Kompositionstechnik, Stimm­führung und Akkordbildung besitzen. Zur hohen Komplexität des Buchs kommt die rein klassische Ausrichtung, die manches harmonische Klischee komplizierter erscheinen lässt, als es in der Praxis ist, was gerade bei den Beispielen aus Blues und Jazz einen arg verkopften Eindruck hinterlässt.
Felix Schell wählt einen komplett anderen Ansatz und beginnt die Harmonielehre von Anfang an. Nach Erklärung der Notenschrift und des Tonsystems gibt es Schreibübungen für Notenschlüssel, Noten und Vorzeichen, sodass sich auch der totale Laie in das Thema einfinden kann. Die grafische Gestaltung des Buchs ist äußerst nüchtern gehalten und erinnert an ein Schulbuch der 1970er Jahre, was aber der inhaltlichen Qualität keinen Abbruch tut.
Langsam und verständlich erklärt Schell Intervalle, Dreiklänge, binäre und ternäre Rhythmik und die Stufenakkorde. Zu jedem Thema gibt es theoretische und praktische Übungen. Sehr nützlich sind die Diagramme für das Klavier, denn so können sich auch pianistisch unbeleckte LeserInnen die Beispiele auf dem Piano erschließen.
Schell geht nicht so in die Tiefe wie Hempel, bei vierstimmigen Akkorden und einfachen Jazz­kadenzen endet das Buch; aber dieser Schwierigkeitsgrad ist gerade richtig für AnfängerInnen und leicht Fortgeschrittene. Viele aktuelle Rock- und Popsongs gehen kaum über die in Schells Buch erklärten Phänomene hinaus, sodass man leicht Querverbindungen zu im Instrumentalunterricht gelernten Stücken herstellen kann – egal ob diese aus Rock, Jazz oder Klassik stammen.
Schade ist, dass auch Schell aktuellen Strömungen der Rockmusik hinterherhinkt. Wenn unter der Überschrift „Die klassische Harmonielehre heute“ Bands wie Them und die Beatles erwähnt werden, ignoriert das glatt 50 Jahre Rockgeschichte inklusive zahlreicher interessanter Harmoniefolgen. Keinesfalls kann und muss eine Harmonielehre die aktuellen Charts wiederspiegeln, aber gerade jüngeren LeserInnen würden aktuellere Songbeispiele sicher den Zugang erleichtern. Stattdessen gibt es überwiegend deutsche Volkslieder und amerikanische Spirituals, die den heutigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen (die nun mal den Großteil der Musikschüler ausmachen) gar nicht mehr so vertraut sind, wie viele Pädagogen glauben.
Das ist aber auch der einzige Wermutstropfen im gelungenen pädagogischen Konzept, denn Schells Workbook wird dem im Titel geäußerten Anspruch „von Anfang an“ definitiv gerecht. Um nach Durcharbeiten seines Werks auf das hohe Niveau von Hempels Harmonielehre-Analysen zu kommen, bedarf es aber sicherlich einiger Jahre intensiver musikalischer Arbeit.
Fazit: Beide Bücher bieten solide, fachlich fundierte Informationen, befinden sich aber an zwei weit auseinanderliegenden Punkten des musikalischen Bildungsspektrums, sodass man vor dem Kauf eine realistische Selbsteinschätzung vornehmen sollte.
Martin Schmidt