Welte, Andrea

Hast du heute schon präludiert?

Kreatives Üben mit Jaques Hotteterre

Rubrik: Bericht
erschienen in: üben & musizieren 4/2016 , Seite 37

Präludieren (von lat. praeludere = vorspielen) ist heute ein eher selten gebrauchter Terminus. Dabei nahm das Präludieren im Musikleben früherer Jahrhunderte einen wichtigen Platz ein.1 Für Johann Mattheson galt es sogar als „der höchste practische Gipffel in der Music“.2 Präludieren heißt, ein instrumentales Vorspiel frei zu gestalten bzw. zu improvisieren. Es wurde besonders häufig auf der Orgel und anderen Tasteninstrumenten praktiziert. Bis ins 19. Jahrhundert hinein war es auch auf Melodieinstrumenten üblich, vor komponierten Werken jeweils ein improvisiertes Präludium (frz. Prélude) zu spielen. Im Lauf der Zeit entwickelte sich das Prälu­dium weiter, vom improvisierten Vorspiel und Musikstück mit eröffnendem oder hinführendem Charakter über das eigenständige Charakterstück und die Etüde bis hin zu großen Klavier- oder Orchesterwerken.3
Das Präludieren im ursprünglichen Sinn erfüllt mehrere Funktionen: Auf der einen Seite bereitet es das Publikum musikalisch vor bzw. lenkt seine Aufmerksamkeit auf das folgende Stück, auf der anderen ermöglicht es den SpielerInnen, sich einzuspielen, das Inst­rument und die Raumakustik auszuprobieren. Nicht zuletzt verhilft es zum Aufbau einer guten Spieltechnik und regt zu einem kreativen, intelligenten Üben an.4 Vornehmlich im 18. und 19. Jahrhundert wurden Werke mit der Absicht verfasst, in die „Kunst des Präludierens“ einzuführen.5 Auch zahlreiche instrumentale Lehrwerke der Zeit behandeln das Präludieren und enthalten Beispiele für Préludes.6
Zwölf Jahre nach seiner Flötenschule veröffentlichte Jacques Martin Hotteterre 1719 in Paris L’art de Préluder, die Kunst des Präludierens. In diesem Lehrwerk für SpielerInnen von Melodieinstrumenten versucht er, das improvisierte Prélude („prélude de caprice“) in Regeln zu fassen und seine Prinzipien zuverlässig und klar dazulegen. Die Préludes seien keineswegs nur ein „Produkt des Augenblicks ohne irgendeine Vorbereitung“,7 sondern gehorchten bestimmten Regeln, die gelernt und gelehrt werden können. Sein Lehrwerk enthält neben theoretischen Abhandlungen als Modelle für das eigene Erfinden zahlreiche „Traits“ (Übungen, charakteristische Läufe) sowie fertige Préludes in verschiedenen Tempi und Charakteren.
Das Spielen und Erfinden von Traits und Préludes bereicherte nicht nur den damaligen Unterricht – in der Praxis des Präludierens steckt auch enormes Potenzial für das Unterrichten heute! Manche trauen sich das Präludieren rasch zu und haben großen Spaß daran, auf ihrem Instrument „zu scherzen“, wie Hotteterre es einmal bezeichnet hat.8 Andere lernen viele Préludes auswendig, transponieren Traits bzw. analysieren ausführlich, bevor sie sich selbst an das Erfinden wagen.
Hotteterres Lehrwerk ist eine wahre Fundgrube für fortgeschrittene SpielerInnen von Melodieinstrumenten. Dass eine deutschsprachige Neuausgabe vorliegt, erleichtert den Zugang. Vielfältige Anregungen, das Präludieren bereits im Anfangsunterricht zu üben, bieten Lehrwerke wie die von Michel Corrette9 oder François Devienne10 mit ihren einfacheren Modellen.
Das Präludieren in die eigene Übepraxis und den Unterricht einzubeziehen, hat nichts ­Museal-Angestaubtes, sondern entspricht im Gegenteil aktuellen lerntheoretischen und musikpädagogischen Erkenntnissen. Eine explorative, selbstbestimmte Präludierpraxis stimuliert Motivation und Kreativität gleichermaßen und fördert auf spielerische Art und Weise spieltechnische Fertigkeiten, Stilbewusstsein und musikalisches Verstehen.

1 vgl. Arnfried Edler: „Präludium“ in: Musik in Geschichte und Gegenwart (MGG), Sachteil, Band 7, Kassel 1997, Sp. 1792-1804; Peter Reidemeister: „,…der höchste practische Gipfel in der Musik‘. Die Kunst des Praeludierens“, in: Hartmut Krones (Hg): Alte Musik und Musikpädagogik, Wien 1997, S. 113-126.
2 Johann Mattheson: Der vollkommene Capellmeister, Hamburg 1739, S. 478.
3 vgl. Edler und Reidemeister.
4 vgl. Reidemeister, S. 115-118.
5 vgl. z. B. Johann Gottfried Vierling: Versuch einer Anleitung zum Präludieren für Ungeübtere, Leipzig 1794.
6 vgl. z. B. François Couperin: L’art de toucher le clavecin, Paris 1717.
7 Jacques Hotteterre: L’art de Préluder sur la flûte traversiere, sur la flûte à bec, sur le hautbois et autres inst­ruments de dessus, Paris 1719, übersetzt und heraus­gegeben von Dagmar Wilgo, Magdeburg 2011, S. 4.
8 vgl. ebd., S. 18.
9 Michel Corrette: Méthode raisonnée pour apprendre aisément à jouër de la flûtte traversiere, Paris-Lyon 1740, S. 45-48.
10 François Devienne: Nouvelle méthode théorique et pratique pour la flûte, Paris ca. 1794.

Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 4/2016.