Rüdiger, Wolfgang
Hin und weg
Wege der Improvisation neuer Musik in gemischten Ensembles
Was macht man im Unterricht mit einem kunterbunt gemischten Instrumentalensemble, wenn weder Stücke noch passende Bearbeitungen zu finden sind und keine Zeit zum Arrangieren bleibt? Viele faszinierende Formen der Improvisation neuer Musik bieten sich hier an. Sie ermöglichen ganz neue, schöpferische Umgangsweisen mit Musik, erweitern die Hörerfahrungen und den musikalischen Horizont und eröffnen Wege zur Musik des 20. und 21. Jahrhunderts. Sie regen zu einer gemeinsamen kreativen Arbeit mit Instrumenten aller Art an und machen das musikalische Leben reicher, zumal wenn das gemeinsame Erfinden, Spielen und Erarbeiten von bislang nie gehörter Musik zu einem Ergebnis führt, das sich vorzeigen lassen kann und von dem nicht nur die Spieler, sondern auch die Hörer hin und weg sind.
Von den vielen Improvisationsmöglichkeiten neuer Musik möchte ich im Folgenden vier exemplarische Wege dieser ältesten Musizierform der Welt vorstellen, bei der das Erfinden und Formen von Musik während des Spielens und einander Zuhörens geschieht (und nicht wie beim Komponieren in der versunkenen Arbeit am entstehenden Werk und seiner Notation). Angesiedelt sind sie auf einer Skala von 0 bis 100 bzw. von Nichts bis Alles. Den einen Pol markiert das freie Spielen ohne jede Vorgabe und Verabredung, den anderen die Orientierung an existierenden Werken, aus deren Materialien, Formen und Strukturen neue Improvisationsideen entwickelt werden können.
Dazwischen liegen das Improvisieren nach gemeinsam vereinbarten Regeln, Ausgangsimpulsen, Aufgaben etc. und die Gestaltung vorhandener Improvisationskonzepte bzw. Improvisationskompositionen, die die Spieler zum Mitkomponieren einladen. Hier zeigt sich, dass Improvisation und Komposition keine Gegensätze darstellen, sondern „Endpunkte eines Kontinuums“,1 das ein Wandern vom einen zum anderen erlaubt und einen Kreislauf beschreibt: Das instrumentale Improvisieren „ex nihilo“, ohne alle Vorabsprachen, kann ebenso zu einem neuen Werk hin führen, wie umgekehrt die Beschäftigung mit einem Werk weg führen kann zur Improvisation, die wiederum neue Werkentwürfe hervorbringt usw. Walter Benjamins Wort vom Kunstwerk als „Totenmaske der Konzeption“ und „Kraftzentrale“2 wird hier sinnfällig: Erst wenn ein Werk, nicht selten aus Improvisation geboren und improvisatorische Momente enthaltend, wieder lebendig wird, sei’s in fantasievoller Interpretation oder Improvisation, und wenn umgekehrt die gemeinsame Improvisation Züge eines lebendigen Werks trägt, kann man zur Darbietung sagen: Ich bin ganz hin und weg.
Nachfolgend stelle ich diese vier Wege der Improvisation neuer Musik in variablen (oder auch homogenen) Ensembles anhand praktisch erprobter Beispiele dar, die weniger als Rezepte dienen, vielmehr Mut machen sollen zur Erfindung neuer Musik, die ein spannendes Abenteuer sein kann, wenn man sich darauf einlässt, die Ohren aufmacht und ein bisschen experimentierfreudig ist.
1 Andreas C. Lehmann: „Komposition und Improvisation“, in: Herbert Bruhn/Reinhard Kopiez/Andreas C. Lehmann (Hg.): Musikpsychologie. Das neue Handbuch, Reinbek bei Hamburg 2008, S. 338 und 340 ff.
2 Walter Benjamin: Einbahnstrasse (1928), Frankfurt am Main 1955, S. 49 f.
Lesen Sie weiter in Ausgabe 4/2009.