Lessing, Wolfgang

„Hör dir doch mal zu!“

Freie Improvisation über einen musikpädagogischen Standard

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 5/2015 , Seite 12

Was genau bedeutet es denn, sich selbst (besser) zuzuhören? Tun wir das nicht sowieso? Sicher ist uns klar, dass damit nicht die ­physiologische Fähigkeit des Hörens gemeint ist. Doch was dann?

„Ich war ein ziemlicher Spätzünder, was jetzt Ausdruck angeht. Also ich hatte noch gar nicht begriffen, dass man auf dem Cello auch was ausdrücken kann. Ich hab eben so friedlich gespielt, und das kam eigentlich erst mit 15, dass ich das begriffen habe. Ich weiß noch, dass ich vorher mal von Goltermann ein Konzert gespielt habe. Und als ich das im Unterricht vorspielte, hat meine Lehrerin immer gerufen: ,Zuhören, zuhören und singen!‘ Aber ich hab das nicht begriffen, was sie da meinte, ich dachte nur: ,Ich hör ja zu, was will sie denn?‘ Und das kam sicher dadurch, dass ich so für mich alleine war.“
Soweit die Erinnerung einer Cellistin – heute Mitglied eines bekannten deutschen Sinfonieorchesters – an ihren mittlerweile fast dreißig Jahre zurückliegenden Unterricht.1 Es soll hier nicht näher diskutiert werden, ob die engagierten Zwischenrufe der Lehrerin pädagogisch sinnvoll waren: Ganz offensichtlich waren sie es nicht, denn sie haben auf Seiten der Schülerin vor allem Ratlosigkeit ausgelöst. Damit steht sie sicher nicht allein. Ich vermute, dass vielen InstrumentalistInnen, denen im Unterricht gesagt wird, dass sie sich bitte besser zuhören mögen, der Sinn dieser Aufforderung zunächst einmal verschlossen bleibt. Die meisten nehmen wohl zuerst einmal das offensichtlich Tautologische dieses Satzes wahr: so wie unsere Schülerin, der es ja eine Selbstverständlichkeit schien, dass sie die akustischen Informationen, die sie produzierte, auch hörte. Schließlich war sie ja nicht taub!
Wie hätte die Lehrerin wohl formulieren müssen, damit unsere Schülerin sie verstanden hätte? Diese Frage lässt sich gar nicht so einfach beantworten, denn dazu müsste man erst einmal wissen, was sie selbst eigentlich genau meinte, als sie von ihrer Schülerin verlangte, sie solle sich (besser) zuhören. Angesichts der Häufigkeit, mit der dieser Satz unter Musikern verwendet wird, scheint der Gedanke nicht ganz abwegig, dass er, was immer er zum Ausdruck bringen soll, anscheinend kaum anders artikuliert werden kann als durch eben diese Tautologie.
Offenbar haben wir es hier mit einem Sachverhalt zu tun, bei dem diejenigen, die über entsprechende Erfahrungen bereits verfügen, automatisch wissen, was damit gemeint ist, während alle anderen in Ratlosigkeit verharren. Ein Sachverhalt, der auf etwas grundsätzlich anderes als die jedem gesunden Menschen zur Verfügung stehende Hörfähigkeit zielt und für den es sprachlich anscheinend aber doch keine andere Artikulationsmöglichkeit als eben diesen Allerweltsbegriff des Hörens bzw. Zuhörens gibt. Es ist ein bisschen wie in Franz Kafkas Parabel Von den Gleichnissen, in der es heißt: „Wenn der Weise sagt: ,Gehe hinüber‘, so meint er nicht, dass man auf die andere Straßenseite hinüber gehn solle, was man immerhin noch leisten könnte, wenn das Ergebnis des Weges wert wäre, sondern er meint irgendein sagenhaftes Drüben, etwas, was wir nicht kennen, was auch von ihm nicht näher zu bezeichnen ist und was uns also hier gar nichts helfen kann.“2

1 Das Zitat entstammt einem Interview, das ich im Zusammenhang mit einem von mir geleiteten Forschungsprojekt zu den Spezialschulen für Musik der DDR durchführte.
2 Franz Kafka: Von den Gleichnissen, in: Die Erzählungen, Frankfurt am Main 22013, S. 423.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 5/2015.